Ein Teenager findet in der virtuellen Welt eines Games ihr neues Zuhause
Die 17jährige Jennifer (Emma Bading) fühlt sich nach dem Umzug ihrer Eltern unwohl in ihrer neuen Umgebung. Sie ist einsam, hat Probleme mit ihrem Aussehen, und in der Schule wird sie links liegengelassen. Angefixt durch das Virtual Reality Game „Avalonia“ hat sie in der Welt der Elfen und Amazonen bald ihr neues Zuhause gefunden. Sie ist hin und weg von dieser „krass intensiven Erfahrung“ und hat bald keinen Sinn mehr für Schule und Eltern. Ihr Vater (Oliver Masucci) bagatellisiert anfangs ihr obsessives Game-Verhalten, die Mutter (Victoria Mayer) hingegen dringt auf geregelte Online-Zeiten. Aber was ist schon eine Internetsperre für einen Digital Native?! Jennifer setzt sich über Ermahnungen, Beschränkungen und Verbote hinweg, sie lügt, sie hintergeht ihre Eltern – Hauptsache, sie kann wieder spielen. Aus der anfänglichen Euphorie ist ein Rausch geworden, der sich verselbständigt hat, eine Sucht, die sie mehr und mehr auch körperlich anzugreifen scheint. Selbst den Abiturienten Pierre (Jonas Hämmerle), den sie im Game kennengelernt und an dem sie anfangs ein reales Interesse hat, missbraucht sie, um wieder in ihr geliebtes „Avalonia“-Reich zu kommen. Jetzt droht die Spielfigur, eine mutige Kriegerin, die so manchen Drachen in die Flucht schlägt, verhängnisvoll von ihr Besitz zu ergreifen.
Lustvolle, euphorische Kämpfe auf der Suche nach der eigenen Identität
Die Heldin des Fernsehfilms „Play“ hat jedes gesunde Maß verloren für ihre Lust am Virtuellen. Mit futuristischer VR-Brille und schwarzen Gamer-Handschuhen erkämpft sich jene Jennifer das Selbstbewusstsein, das ihr in der Realität fehlt. Immer kraftvoller fightet sie und bezwingt mit Pfeil und Bogen das Böse: Es sind Kämpfe auf der Suche nach der eigenen Identität. In dieser Welt muss sie sich nicht sorgen machen um einen Körper, in dem sie sich nicht zuhause fühlt. Ihre Spielfigur hingegen findet sie offenbar perfekt: ebenmäßiges Gesicht, wache Augen, stark, unabhängig, bedeutsam. „Ich kann Jugendliche verstehen, die sich in andere Welten hineinträumen, um sich dort wichtig und gebraucht zu fühlen“, sagt Hauptdarstellerin Emma Bading im Presseheft. „Das ist eine Kompensation für den Druck und die Zweifel, das ständige Bewerten und manchmal auch – wie in Jennys Fall – für die fehlende Selbstliebe.“ Der Film zeigt, wie ein Teenager pathologisch ins Game-Universum abdriftet. Psychologie und Dramaturgie dieser Krankheit sind weitgehend identisch mit anderen Süchten. Den vielen Glücksmomenten zu Beginn folgen vermehrt die grauen Stunden. Wahrnehmungsstörungen, kalter Schweiß sind vor der finalen Katastrophe Jennys ständige Begleiter. „Es gibt Tage, da will ich einfach nur schreien, bis meine Seele zerspringt. Es gibt Tage, da will ich niemals geboren werden, aber die Welt scheißt mich aus sich heraus.“ Das sind starke Metaphern für die depressiven Episoden, von denen die Heldin heimgesucht wird.
„Ich war von der Idee, einen Film über Gaming-Sucht zu machen, begeistert – aber nicht nur davon, die düsteren Seiten des Themas zu beleuchten und tief in die Abgründe zu blicken, sondern auch die Faszination und Magie spürbar zu machen, die dieses Medium entfachen kann.“ (Philip Koch)
Es gelingt vorbildlich, einen psychotischen Charakter zur Heldin zu machen
Die Darstellung einer Sucht in einem Fernsehfilm ist eine Herausforderung. Im Verlauf der Krankheit gibt es zwar verschiedene Phasen; für das Neunzig-Minuten-TV-Format muss man sich trotzdem mehr als nur eine Chronologie der Ereignisse einfallen lassen. Autor-Regisseur Philip Koch und Produzent-Koautor Hamid Baroua haben – um es vorwegzunehmen – alles richtig gemacht. Schon im Intro legt die Frage einer Frau, die sich nach 24 Filmminuten als Psychiaterin erkennen lässt, zu den Motiven des Spiels nahe, dass die junge Hauptfigur im Verlauf der Handlung die Kurve kriegen wird. Jennys Antwort „Ich wollte einfach abtauchen in irgendwas Schönes und darin verschwinden“ ist noch sehr allgemein formuliert: ein guter Einstieg, der neugierig macht. Die Therapiesituation immer wieder filmisch suggestiv statt raum-zeitlich realistisch in die Handlung einzuweben, erweist sich als kluge Methode, um ins Innenleben der Hauptfigur zu leuchten. So bekommt der Zuschauer einen Eindruck von der Krankheit und ein Gefühl davon, was in Jennifer vorgeht. Das ist auch nicht unwichtig in Bezug auf die dramaturgisch größte Herausforderung des Films: einen psychotischen Charakter zum Helden zu machen. Jennifer sollte ambivalent, abgründig und vielschichtig sein, so Koch, eine junge Frau, die Schuld auf sich lädt, die ihre Liebsten ständig täuscht. „Gleichzeitig sollte sie den Zuschauer an die Hand nehmen, damit er bereit ist, diese Abwärtsspirale mit ihr tief in die Dunkelheit mitzugehen, mit ihr mitzuleiden, mitzufiebern, anstatt das Geschehen als distanzierter Beobachter zu betrachten.“ Dafür ist es sicherlich hilfreich, die persönlichen Probleme deutlich zu machen und Jenny kleinlaut und sympathisch in der Therapie zu Wort kommen zu lassen. Aber auch in den Ausflügen in die Vitual Reality vermitteln sich Ängste und Sehnsüchte der jungen Frau. Jenny ist allgegenwärtig.
Der Ton und das Sounddesign verselbständigen sich
In „Play“ verschwimmen nicht nur die Wirklichkeitsebenen, gelegentlich werden auch die Wahrnehmungsebenen innerhalb einer der Welten entkoppelt. Der Ton wird zurückgemischt oder emanzipiert sich vom Bild. Dadurch wirken Situationen surreal verfremdet. Mal hört man ein dumpfes Rauschen, als würde das Blut durch Jennys Adern strömen. Mal vernimmt man leise die Stimmen der Eltern. Alle diese subjektiv motivierten und perspektivierten Effekte verstärken das Abtauchen in den Game-Kosmos. Jenny entrückt also auch sinnlich-ästhetisch ihrem Teenagerdasein.
Ob psychologisch, physisch, ikonografisch: Emma Bading ist immer eine Wucht!
Für die Politik der Zuschauer-Emotionen dürfte die Wahl der Hauptdarstellerin die wichtigste Entscheidung gewesen sein. Emma Bading hat bereits als junger Teenager gezeigt, dass sie neben schrägen Komödien („Wir sind die Rosinskis“) vor allem das Zeug zum Drama („Weiter als der Ozean“ / „Usedom-Krimis“) und zu entsprechend vielschichtigen Charakteren besitzt. Wie die 21-Jährige ihr von der Sucht gepacktes Girlie spielt, ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Sie verkörpert ihre Rolle mit allem, was ein(e) Schauspieler(in) mitbringen kann: Sie zeigt klassisches, beseeltes, psychologisch motiviertes Spiel, physische Action zwischen Schattenboxen und Martial-Arts-Akrobatik – und manchmal stellt sie der kunstvolle Bilder komponierenden Kamera von Alexander Fischerkoesen einfach nur ihr markantes Antlitz zur Verfügung: ungeschminkt, schutzlos, in seinem So-Sein, eine ikonografische Gesichtslandschaft, zerstückelt in Augen, Nase, Mund. Augenringe, fahl die Gesichtszüge und wirr der Blick. In der Totalen, besonders beim Gaming, verwandelt sich diese junge Frau zu einem Menschen aus einer anderen Welt – artifiziell, fragil, höchst konzentriert. Und dann gibt es noch ein Bild für die Ewigkeit: Jenny begegnet ihrem Abbild. Überwältigt von der narzisstischen Energie dieses magischen Moments küsst sie ihren Avatar.
Die andere Seite der Sucht: die große Faszinationskraft virtueller Online-Spiele
Bestechend ist auch der analytische Ansatz, den Philip Koch & Co für „Play“ gewählt haben. Der Film erzählt nicht nur vom Sucht-Potenzial virtueller Online-Spiele, sondern reflektiert auch das Faszinosum dieses Phänomens: Computerspiele als Ersatzwelt, als Droge, ja – aber warum? Und so wird der in kühle Blautöne getauchten realen Welt, in der sich die dunkel gekleidete Heldin wie ein Fremdkörper bewegt, eine in freundliche Fantasy-Optik getauchte farbige Cyberspace-Wirklichkeit gegenübergestellt, in der die sonst so apathische Jenny auflebt. Das wiederum wirkt sich auch positiv auf die Spannung aus. Obwohl das Thema Sucht dramaturgisch nicht genuin sexy ist, sorgt die Dopplung der Darstellungsebenen, das Nebeneinander von realer und digitaler Welt, für eine außerordentliche Dynamik. In eine ähnliche Richtung experimentiert hat der Fernsehfilm „Das weiße Kaninchen“. Auch dieses Cyber-Thrillerdrama wollte die schöne, neue Netzwelt nicht verteufeln. „Play“ verfolgt diese Methode nun noch einen Schritt radikaler. Der Zuschauer taucht immer wieder in den Gaming Space ein. Als Medium dafür dienen etliche vollanimierte Animationssequenzen. Auch das ein Novum: In einem deutschen Fernsehfilm hat man so etwas bisher noch nicht gesehen.