Neandertaler

Natalia Belitski, Marc Ben Puch, Dinter, Krämer, Gersina. Die Schöne & das Biest

Foto: RTL 2
Foto Rainer Tittelbach

Mit „Neandertaler“ bringt RTL 2 innerhalb von wenigen Monaten bereits die zweite mehrteilige Fiction-Eigenproduktion ins Programm. Was wie ein klassischer Krimi mit einem brutalen Mord beginnt und auf eine feinfühlige Rechtsmedizinerin setzt, die sich plötzlich zum Ermitteln berufen sieht, gerät bald ins Mystery-SciFi-Fahrwasser. Denn an der deutsch-polnischen Grenze sind die Urmenschen los, frisch geklont und ziemlich unberechenbar. Die sehr linear und wenig komplex erzählte rund 200-minütige Serie beginnt langatmig, weckt aber zunehmend die Neugier des Zuschauers. Belitski lässt über einige Schwächen hinweg sehen, nicht aber darüber, dass RTL 2 dramaturgisch und filmisch zu wenig wagt.

Wer ist gefährlicher: die Schöpfer oder ihre Kreaturen?
Lena Taubner (Natalia Beltski) ist Rechtsmedizinerin, aber ein ebenso brutaler wie mysteriöser Vierfachmord an der deutsch-polnischen Grenze zwingt sie dazu, diesen Fall im Alleingang und ohne den geistig unflexiblen Kommissar Balthaus (Ulrich Gebauer) aufzuklären. Denn wer würde ihr schon glauben, dass ihr während ihrer Recherchen plötzlich ein Neandertaler gegenübersteht. Sie hatte ja selbst an ihrer DNA-Analyse gezweifelt, die keine Spuren eines Homo sapiens, sondern eines Homo neanderthalensis am Tatort ausmachte. Unterstützung bekommt Lena von einem leidenschaftlichen Paläontologen (Bernd-Christian Althoff“) und bald auch von ihrem emeritierten Doktorvater (Ulli Kinalzik). Sicher ist, dass „Neo“ (Marc Ben Puch) geklont wurde und dass er vor seinen Erzeugern geflüchtet ist. Wahrscheinlich sind sie nicht die einzigen. Ein ehemaliger Kommilitone von Lena könnte seine schmutzigen Hände mit im Spiel haben. Alle Spuren führen zu einer sogenannten „Sicherheitsfirma“ auf der polnischen Seite. Werden dort andere geklonte Neandertaler gefangen gehalten? Und wer ist überhaupt gefährlicher: die Schöpfer oder ihre Kreaturen? Lena jedenfalls will nicht glauben, dass „Neo“ mit seinem warmen Blick zu einem solchen Blutrauschmord in der Lage ist.

NeandertalerFoto: RTL 2
„Neandertaler“ nimmt sich Zeit. Erst nach 50 Minuten bekommt man den ersten Urmenschen (Marc Ben Puch) zu sehen.

Über 50 Minuten warten auf den ersten Steinzeitmenschen
Mit „Neandertaler“ sendet RTL 2, ein Sender, der fast 20 Jahre keine deutsche TV-Fiction mehr im Programm hatte, nun innerhalb von sieben Monaten nach „Gottlos – Warum Menschen töten“ die zweite mehrteilige Eigenproduktion. Vier Mal rund 50 Minuten, gesendet in zwei Blöcken an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, das ist ein Ausstrahlungsmodus, der den Sehgewohnheiten sowohl des traditionellen Fernsehzuschauers als auch des jüngeren Serienpublikums bestmöglich gerecht werden könnte. Und die Serie selbst? Nach Sichtung zweier Folgen bleiben viele Fragen offen. Wohin sich die Handlung bewegen wird, ist dabei noch am ehesten abzusehen: Lena & Co werden das Ding schon irgendwie schaukeln, ob mit oder ohne dem mürrischen Kommissar. Weniger deutlich sind die Erzählhaltung und das Genreversprechen. Was wie ein klassischer Krimi im Stil der 2010er Jahre recht blutrünstig beginnt, aber mit einer feinfühligen Heldin aufwarten kann, die mit einer entsprechenden Ehrfurcht den Tatort des Gemetzels liest, gerät immer mehr ins Mystery-Fahrwasser, ohne dabei die Bindung zur Wirklichkeit zu verlieren. Erst nach 45 Minuten bekommt man den ersten Neandertaler mehr im Off als (sichtbar) im On präsentiert, mit einem Faustkeil auf die Zwölf eines Jägers. Die erste Großaufnahme des Neandertalers „Neo“, der sich als zweite Hauptfigur etablieren wird, ist dann gleichzeitig eine Art Cliffhanger. Noch wissen weder die menschlichen Protagonisten noch die Zuschauer, was von diesem Steinzeitmenschen zu erwarten ist. Wird sich mit der Unberechenbarkeit des fremden Wesens der Furcht-Faktor durchsetzen? Wird es zur Verbrüderung zwischen den guten Menschen und der geklonten Kreatur kommen? Auch über das mögliche Ende lässt sich spekulieren: E.T.- oder Frankenstein-Faktor? Nur eines ist sicher – und das sind die erkennbaren Anspielungen auf eines der Archetypen des phantastischen Films: Die Schöne und das Biest / die Bestie.

NeandertalerFoto: RTL 2
Rechtsmedizinerin im Emergency Room. Lena Taubner (Natalia Belitski) und Paläontologe Adam Novak (Bernd-Christian Althoff) bekommen Hilfe von Lenas Freundin (Kata Losonczi). Eine für deutsche Verhältnisse recht passable Mystery-Krimi-Mixtur.

Die Furcht vor dem Fremden könnte ein „Thema“ werden
Verständlicherweise wollte man das spektakuläre Sujet „Menschen von heute treffen in ihrer Welt auf Steinzeitmenschen“ schon im Titel deutlich machen: Dass der Film „Neandertaler“ heißt, nimmt allerdings den ersten 30 Minuten jegliche Rätselspannung. Dann endlich baut sich als Ergebnis der DNA-Analyse, das Bild eines Neandertalers, auf dem Monitor der Rechtsmedizinerin auf. Aber die Heldin kann immer noch nicht glauben, dass an der deutsch-polnischen Grenze die Steinzeitmenschen los sind. Und so zieht sich die erste Folge und sie dürfte sich für alle Zuschauer ziehen, die den Filmtitel kennen und die ein bisschen Genrefilm-Erfahrung mitbringen. Doch glücklicherweise gibt es da noch die beiden sympathischen Hauptfiguren, die langsam zueinander finden und die Geschichte an sich reißen, und es gibt ihre Darsteller, Natalia Belitski und Bernd-Christian Althoff: Sie, DIE Neuentdeckung der letzten Monate, sensibel, sinnlich, sexy, er, der aussieht wie der kleine Bruder von Jürgen Klopp und ähnlich spielt: locker, unkompliziert, extrovertiert. Sie müssen es in den ersten 50 Minuten rausreißen. Denn vom Kommissar und dem B-Plot um fremdenfeindliche deutsche Dorfbewohner (und ihre schrecklich synchronisierten Kleindarsteller) an der polnischen Grenze ist erstmal nicht viel zu erwarten. Man ahnt aber, wie und wo sich Motive der beiden Erzählstränge treffen könnten: Die Angst vor dem Fremden könnte so ein Knotenpunkt sein. Folge 2 steht ganz im Zeichen des Blind Date zwischen Mensch und Neandertaler. Und langsam schält sich ein Grundmotiv heraus, das man aus vielen Filmen kennt, in denen der Mensch plötzlich mit etwas ihm Fremden konfrontiert wird: ob Frankenstein (sehr passend wegen des Klon-Motivs) oder King Kong, ob Außerirdische bei Spielberg oder Emmerich – man muss sich entscheiden, wie man dem Fremden gegenübersteht. Glaubt man an das Böse oder das Gute in ihm? In einer zentralen Szene in der zweiten Folge schenkt Lena dem Wesen ihr Vertrauen. In den beiden letzten Folgen dürfte es also emotionaler werden. Spannender sowieso, denn bei aller Kritik an der Dramaturgie von Folge 1, spätestens Mitte der zweiten Folge obsiegt trotz der sehr linearen, simplen Erzählweise die Neugier, wie es weitergeht.

Trotz Schwächen – für die Vielfalt des Programms ein Gewinn!
Wehmut könnte aufkommen, wenn man sich an die Fiction-Aufbruchstimmung Mitte der 1990er erinnert, als sogar der kleine RTL-Bruder mit TV-Movies vor allem Image-Punkte sammelte. Nico Hofmanns „Der Sandmann“ mit Götz George holte sogar einen Grimme-Preis. Mit dem Label „Die jungen Wilden“ machte RTL 2 der ARD mit ihren „Wilden Herzen“ Konkurrenz. Schade, dass dem Sender letztlich der Mut fehlte, „Neandertaler“, ein Serien-Projekt, das deutlich für ein sehr viel jüngeres Zielpublikum als die öffentlich-rechtlichen Fiction-Programme gedacht ist (und sich deshalb auch nur bedingt mit den Serien von ARD & ZDF vergleichen lässt), nicht auch „jünger“ aussehen zu lassen. Zwar liegt Berlin hinter einem Grauschleier und in den Szenen in der Pampa sind ohnehin die Farben aus den Bildern gewaschen, sie wirken dadurch aber nicht surreal, sondern eher flach. Bei diesem Genre, diesem Sujet, aber auch diesem Sender hätte man sich eine radikalere, auch dynamischere Bildsprache vorstellen können. Mehr Geheimnis wenigstens in den Bildern, wenn Folge 1 schon dramaturgisch durchhängt. Wie das geht, mit wenig Geld größte Wirkung zu erzielen, machte die Produktionsfirma von „Neandertaler“, die Ninety Minute Film, mit der Debüt-Komödie „Undercover küsst man nicht“ (Sat 1, 27.9.) vor: wieder Natalia Belitski, dazu eine junge Autorin und ein junger Regisseur (und Ko-Autor). Auch für ein Genre-Projekt wie „Neandertaler“ wäre das wohl das bessere Konzept gewesen: mit Leuten zu arbeiten, die brennen, die das Genre beleben wollen, die vielleicht schon an der Filmhochschule einen Kurzfilm im Mystery-Krimithriller gemacht haben. RTL 2 kann man nur wünschen, dass der Sender dran bleibt und weiterhin Fiction bei deutschen Produzenten in Auftrag gibt. Für die Vielfalt des Programms kann es nur ein Gewinn sein. (Text-Stand: 9.9.2016)

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Serie & Mehrteiler

RTL 2

Mit Natalia Belitski, Marc Ben Puch, Ulrich Gebauer, Bernd-Christian Althoff, Ulli Kinalzik, Daniel Hartwig, Sergej Onopko

Kamera: Jochen Stäblein

Szenenbild: Martin Schultz

Kostüm: Krisha Lindner

Maske: Ivan Pohárnok

Produktionsfirma: Ninety Minute Film

Drehbuch: Matthias Dinter, Nikolaus Krämer

Regie: Peter Gersina

Quote: 1.+2. Folge: 0,65 Mio. Zuschauer (3,4% MA); 3.+4. Folge: 0,5 Mio. Zuschauer (3,2% MA)

EA: 20.09.2016 20:15 Uhr | RTL 2

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