Im Herbst 2014 hatte der Drehbuchautor Stefan Kuhlmann erheblichen Anteil daran, dass „Mordkommission Istanbul“ so etwas wie einen Neustart erlebte. Die Filme drohten in ihrem schematischen Erzählmuster zu erstarren. Mit der zehnten Episode „Die zweite Spur“ ging ein Ruck durch die Reihe: Die Geschichten wurden spannender und abwechslungsreicher, der Humor subtiler und die Themen brisanter. Mit dem Ausstieg von Idil Üner eröffnet sich jetzt die Chance, die Handlung um eine weitere Farbe zu ergänzen: Der nunmehr unbeweibte Kommissar Mehmet Özakin (Erol Sander) findet seit dem letzten Film („Ein Dorf unter Verdacht“) großen Gefallen an der neuen Rechtsmedizinerin Derya (Melanie Winiger), die ihrerseits ebenfalls nicht abgeneigt ist, aber trotzdem auf Distanz bleibt; ein schöner Stoff für eine horizontale Erzählebene. Auch thematisch ist Kuhlmanns Drehbuch zum 17. Fall brisant, selbst wenn sich das erst gegen Ende herausstellt. Trotzdem ist „Der verlorene Sohn“ gemessen an den letzten Episoden enttäuschend, fast ein Rückfall in die Anfangszeit, als die Geschichten vergleichsweise harmlos waren und die Reihe neben dem exotischen Schauplatz vor allem von den Verbalscharmützeln zwischen Özakin und seinem Mitarbeiter lebte.
Mustafa (Oscar Ortega Sánchez), der in den ersten Filmen nicht nur wegen der innigen Beziehung zu seiner Mutter eher wie eine Witzfigur wirkte, durfte sich zuletzt von der Rolle des Pausenclowns emanzipieren und zu einem ernstzunehmenden Partner entwickeln. Hier muss er wieder einige Missgeschicke erleben, die damit beginnen, dass er nach dem Besuch eines Reisebüros seinen Pass vermisst. Auf diese Weise kann Kuhlmann zwar die humoristischen Einlagen mit dem eigentlichen Fall verknüpfen, weil auf beiden Ebenen diebische Kinder eine Rolle spielen, aber trotzdem degradiert sein Drehbuch den braven Mustafa zur Rolle von Özakins Stichwortgeber. Dazu passt, dass der Kommissar den Pass am Schluss in der Einkaufstüte des Kollegen entdeckt. Auch der eigentliche Fall wirkt zunächst etwas beliebig und spielt sich zudem fernab von der aktuellen türkischen Realität ab: Ein Junge findet einen Toten. Der Mann ist kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden: Er hat vor zehn Jahren angeblich seinen Chef, einen Sternekoch, mit einer Bratpfanne erschlagen, jedoch stets seine Unschuld beteuert; das versichert zumindest die attraktive Journalistin Banu (Pegah Ferydoni). Sie ist überzeugt, dass sich der Fall damals ganz anders zugetragen habe: Der vermeintliche Mörder, ein begabter Koch, stammte aus einer armen Familie und ist von seinem späteren Opfer wie ein Sohn aufgenommen worden, zumal Deniz Camlik (Deniz Cooper), der tatsächliche Sohn, keinerlei Interesse daran zeigte, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Banu ist überzeugt, in Wirklichkeit sei Deniz der Mörder seines Vaters gewesen; sie hofft, im Haus der Camliks den Beweis für die Unschuld des Mannes zu finden. Einen Beweis entdeckt Özakin am Ende tatsächlich, aber er enthüllt eine grausige Wahrheit anderer Art.
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Die Handlung ist interessant, und dass Kuhlmann offenbar ausdrücklich keinen Bezug zur politischen Entwicklung in der Türkei herstellen durfte, kann man ihm schlecht vorwerfen. Wie umständlich die Geschichte jedoch im Detail erzählt ist, zeigt ein Besuch Mustafas im Restaurant der Camliks: Erst ist der Beamte über die gepfefferten Preise schockiert, dann kotzt seine gegen Nüsse allergische Begleiterin in den Champagnerkübel. Sinn und Zweck der Szene ist jedoch ein anderer: Angesichts des leeren Lokals soll den Ermittlern klar werden, dass das Restaurant unmöglich die Quelle des sichtbaren Wohlstands der Camliks sein kann.
Gemessen am durchaus brisanten Hintergrundthema wirkt zudem die mitunter unbeschwerte und weitgehend spannungsfreie Atmosphäre des Films unpassend (Regie führte wie bei „Ein Dorf unter Verdacht“ Marc Brummund). Wenig Tiefe haben auch die Auftritte Gudrun Landgrebes als Witwe des einst erschlagenen Kochs: Lebensinhalt der Frau ist „Istanbul Street Kids“, eine Stiftung, die verwahrloste Kinder von der Straße holt; sie hat keine Ahnung, welche Untaten ihr Sohn unter dem Deckmantel der Nächstenliebe treibt. Dessen Besetzung wiederum ist ein echtes Manko: Der Mann ist immerhin Özakins finsterer Gegenspieler, aber Deniz Cooper hat für die Schurkenrolle entschieden zu wenig Charisma. Pegah Ferydoni bringt zwar ungleich mehr Ausstrahlung mit, doch auch ihre Rolle hat einen Makel: Banu gerät absurderweise unter Mordverdacht, weil sie angeblich unter großem beruflichen Druck steht, denn ihre letzten drei Artikel waren „Flops“; was immer auch sich der Autor unter einem journalistischen Flop vorstellt. Immerhin kommt etwas Spannung auf, als Banu entführt wird.
Den größten Fehler hat Kuhlmann jedoch im Hinblick auf Derya begangen. Schon in „Ein Dorf unter Verdacht“ ist die wie eine Hauptfigur eingeführte Rechtsmedizinerin anschließend aus der Handlung verschwunden, weil Özakin an der Schwarzmeerküste ermittelte. In „Der verlorene Sohn“ aber spielt sie kaum noch eine Rolle, was ausgesprochen schade ist; fast hat es den Anschein, als wäre den Verantwortlichen nicht klar, welcher Glücksfall sowohl die Figur wie auch ihre Darstellerin Melanie Winiger für die Reihe ist. Immerhin darf die auf eigenen Wunsch von Ankara nach Istanbul versetzte Derya schlüssig erklären, warum sie so reserviert auf Özakins Avancen reagiert. Dass dessen langweilige Chefin (Defne Halman) mehr Text hat als die schöne Kollegin, ist dennoch unverzeihlich… Regisseur Brummund wiederum verrät gelegentliche stilistische Unsicherheiten. Die Hände einer befragten Person in Nahaufnahme zu zeigen, ist nur dann sinnvoll, wenn die Gesten im Widerspruch zu den Aussagen stehen; ansonsten wirkt das Stilmittel bloß wie eine Anleihe bei zweitklassigen Fernsehreportagen. Ungleich besser gelungen ist eine Verfolgungsjagd, bei der Özakin einen Verdächtigen im Vollsprint die Treppen zu einer alten Ruine hinauf hetzt; Sander (Jahrgang 1968) beweist hier erneut eine bemerkenswerte Fitness. Akustisch ist „Der verlorene Sohn“ ohnehin ein Genuss: Die Musik von Karim Sebastian Elias, elektronisch-dynamisch in den Thrillerszenen, orientalisch eingefärbt in den ruhigeren Phasen, ist fast zu gut für den Film.