Das Verhältnis von Karin Lossow und ihrer Tochter Julia ist schwer gestört. Beide standen jahrelang auf der gleichen Seite des Gesetzes: die ältere als Staatsanwältin, die jüngere als Polizistin. Vor sechs Jahren hat die Mutter ihren Mann erschossen – und damit der Tochter den Vater genommen. Vor deren Augen. Mit deren Dienstwaffe. Nach verbüßter Haftstrafe kehrt Karin nun nach Usedom zurück, an den Ort ihres Verbrechens, das „Mörderhus“, wie die Einheimischen das Haus der Lossows nennen. Julia ist alles andere als begeistert, auch wegen Sophie, ihrer Tochter, die sie von den alten Geschichten fernhalten möchte. Aber die 14-Jährige hat ihren eigenen Kopf – und sie will ihre Großmutter kennenlernen. Julia indes geht ihrer Mutter weiterhin aus dem Weg. Sie hat genug mit sich selbst zu tun: eine heimliche Affäre mit einem polnischen Kollegen gefährdet ihre Ehe – und ein aktueller Fall lässt alte Wunden wieder aufbrechen und reißt neue. Der schwer behinderte Thomas Krenzlin ist ertrunken. Der junge Mann fuhr vor Jahren zwei Freundinnen in den Tod. Also vielleicht ein Racheakt? Oder fahrlässiges Verhalten? Ein Selbstmord aus Lebensüberdruss? Ein Akt der „Erlösung“? Oder steckt dahinter der Wunsch, mal wieder „normal“ leben zu können?
Regisseur Andreas Herzog über die doppelte (Kamera-)Perspektive:
„Weil beide Figuren gleich stark sind, haben wir die Szenen mit ihnen aus zwei Perspektiven gedreht – aus der Sicht der Mutter und aus der Sicht der Tochter. Wir brauchten also doppelt so viele Einstellungen. Ich wollte die Zuschauer nicht auf eine Seite schubsen & ihnen erlauben, sich ein vollständiges Bild zu machen.“
Foto: Degeto / NDR / Pausch
Es ist schon eine krasse Setzung, mit der „Mörderhus“, der Auftakt zur neuen ARD-Reihe „Der Usedom-Krimi“, die Palette der sonst vornehmlich leichten Degeto-Krimis am Donnerstag bereichert. Gemessen am deutschen Fernsehrealismus, der sich der öffentlich-rechtlichen Zielgruppe zuliebe stärker „Glaubwürdigkeit“ und „Alltagsnähe“ verpflichtet fühlt als dem Gute-Geschichten-Erzählen, setzt diese Familienkonstellation auf eine ungewöhnliche Backstory, die den künftigen Episoden eine reichhaltige psychologische Spielwiese bieten dürfte. Hinzu kommt auch der Versuch, sich der horizontalen Narration amerikanischer Premium-Serien anzunähern. „Mörderhus“ beantwortet weder alle Geheimnisse (warum hat Lossow ihren Mann nicht einfach gehen lassen?) aus der Vergangenheit, noch sucht der Film für die gegenwärtigen Konflikte eine schnelle Lösung. Außerdem werden die Charaktere und deren Beziehungen nicht überfrachtet, werden die Motive und Gegensätze innerhalb dieser Sippschaft nicht hart und bedeutungsschwer nebeneinander gesetzt (das ist ja das Problem oft hierzulande: dass die Kontraste, die das Buch vorgibt, viel zu deutlich, oft im TV-Movie-Stil der 90er ausgespielt werden), sondern sie entwickeln sich langsam, aber sehr nachdrücklich im Zusammenspiel mit Landschaften, Blicken, Atmosphären. Die Bilder werden zum Medium der Geschichte, ohne dass sie sich allerdings allzu sehr im Kontemplativen verlieren würden. Dazu sind denn auch die Charaktere zu dringlich und die Schauspieler einfach zu präsent.
Katrin Sass macht in Filmen nicht gern zu viele Worte:
„Am Set habe ich manchmal zu Regisseur Andreas Herzog gesagt: ‚Lass die Frau doch einfach nichts sagen, lass die Bilder sprechen! Man versteht die Szene auch ohne Worte.’ Wunderbarerweise sah Herzog das genauso. Dieses Gerede in Fernsehfilmen macht mich ganz kirre. Es erstickt die Fantasie der Zuschauer.“
Foto: Degeto / NDR / Pausch
Die erste Szene von „Mörderhus. Der Usedom-Krimi“ steht sinnbildlich für den Film wie für die anvisierte Reihe. Das Tor der JVA geht auf, die Tochter geht schweren Herzens auf die Mutter zu, dann wendet sie sich von ihr ab, bevor sie sich eines Besseren besinnt und die Mörderin ihres Vaters, die sich nicht nach Rostock abschieben lassen möchte, mit dem Auto mit nach Usedom nimmt. Die Szene macht wenig Worte. Regisseur Andreas Herzog lässt das Visuelle sprechen. Dieses Prinzip zieht sich durch den gesamten Film. Die Voraussetzungen dafür sind hervorragend. Usedom besitzt viele reizvolle Schauplätze und bietet insgesamt ein extrem stimmungsvolles Ambiente. Darüber hinaus lässt der Winter so etwas wie einen touristischen Blick in keiner Sekunde aufkommen. Dafür sorgt hinter der Kamera Philipp Sichler, der seit einigen Jahren zu einem der radikalsten und konsequentesten Bildgestaltern hierzulande gehört. Zu seinen Großtaten gehören so unterschiedliche Filme wie „Vulkan“, „Hannah Mangold & Lucy Palm“ oder zuletzt der „Tatort – Im Schmerz geboren“. Und dann diese Besetzung! Katrin Sass, Lisa Maria Potthoff, Peter Schneider, Emma Bading – dazu die Gast-Hauptrollen Dirk Borchardt und Mathilde Bundschuh. Allesamt Schauspieler, die Blicke lange halten und es mit der rauen, norddeutschen Umgebung aufnehmen können; die im Schweigen eine große Kraft entwickeln; die die Gefühle ihrer Figuren und die Psychologie der Situation in jeden Zwischenton ihrer Artikulation legen. Und es sind Schauspieler, die einen nicht gefühlt jede Woche im Wohnzimmer besuchen. Die erfrischende Herbheit von Katrin Sass hat man nach „Weißensee“ schwer vermisst. Potthoff gab es letzte Saison erstmals öfters, dafür aber in den unterschiedlichsten Tonlagen. Gleiches gilt für Peter Schneider, der als Krimi-Psychopath genauso wie als liebenswerter deutscher Michel oder Extrem-Charakter im Arthaus-Kino („Die Summe meiner einzelnen Teile“) zu überzeugen weiß. Und die hochtalentierte, heute 16jährige Emma Bading („Weiter als der Horizont“) als dritte „Frau“ im Bunde verpflichtet zu haben, zeigt, was Antrieb der „Usedom-Krimis“ ist: Character-Driven.
Andreas Herzog lädt ein zum Entdecken:
„Der Film erzählt viel Subtext über die Bildsprache. Manche Dinge werden vielleicht nicht jedem Zuschauer auffallen, vieles lässt unterschiedliche Interpretationen zu. Es ist mir dabei sehr wichtig, das Publikum nicht mit einer rätselhaften Bildsprache zu überfordern. Es ist eine Einladung zum Entdecken.
Foto: Degeto / NDR / Pausch
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ähnlich wie im Frühjahr „Zorn – Tod und Regen“ nun auch „Mörderhus. Der Usedom-Krimi“ nachhaltiger beeindruckt als viele der „Tatort“-Neustarts der letzten Jahre. Die Erwartungshaltung, der sich selbst auferlegte Einschaltquotendruck der Sender macht offenbar unfrei. Ganz groß muss es sein. Ganz klein – und dadurch vielleicht ganz groß, diese Variante, die demnächst auch der Frankfurter „Tatort“ mit Margarita Broich und Wolfram Koch verspricht, spielt „Mörderhus“ ziemlich perfekt durch. Der Krimi-Fall korreliert mit der persönlichen Geschichte der Hauptfiguren, aber eher auf Subtext-Ebene als nur vordergründig. Die Verflechtung von Familienstruktur und Krimiplot, von Drama und Genre, von privat und öffentlich ist eng, das dramaturgische Gewebe bei aller visuell-poetischer Entspanntheit dicht, sodass eine hohe atmosphärische Spannung über den 90 Minuten liegt, eine Spannung, die dem Zuschauer allerdings noch Räume lässt für die eigene subjektive Wahrnehmung. Und am Ende steht die Lust nach mehr. (Text-Stand: 30.9.2014)