„Ich bin Helen. Finn gibt’s nicht mehr“
Der verwitwete Gourmetkoch Tobias Wilke ist entsetzt. Das kalifornische Auslandsjahr seines 16-jährigen Sohns Finn endet für ihn mit einem Schock: „Ich leb’ jetzt als Mädchen“, strahlt sein Kind ihm selbstbewusster denn je ins Gesicht. „Ich bin Helen. Finn gibt’s nicht mehr. Das ist keine Verkleidung. Verkleidet war ich die letzten 16 Jahre.“ Auch die Freunde sind verunsichert. Und in der Schule geht Helen erwartungsgemäß erst einmal durch die Hölle. Aber sie erträgt es. Alles ist besser für sie, als weiterhin gezwungen zu sein, im Körper eines Jungen zu leben. Ihr Vater kann sich nur schwer damit abfinden, dass es seinen Finn nicht mehr gibt. Anfangs tut er das Frauseinwollen als Teenager-Phase ab, doch als er von der Vertrauenslehrerin erfährt, dass der Junge seit Jahren Pubertätsblocker nimmt und seine Frau Finn bei den Problemen mit seinem Geschlecht sehr sensibel begleitet habe, gelingt es ihm, sich auf Entscheidung seines Jungen – und somit auf Helen – mehr und mehr einzulassen. Doch dann droht plötzlich das Jugendamt, Helens Zukunftspläne zu durchkreuzen.
„Ich finde die englische Herangehensweise, Tragisches ins Komische zu ziehen, oftmals menschlicher und befreiender. Menschlichkeit entsteht zwischen den Zeilen. Ich wollte unbedingt, dass sich das Publikum mit Finn/Helen identifiziert, mit ihrer Problematik. Und das geht in einem Film mit komödiantischen Elementen leichter: mal fühlt das Publikum intensiv mit ihr und mal hat das Publikum den nötigen Abstand, um über die Situation zu lachen.“ (Gregor Schnitzler)
Balance zwischen Mann & Frau, Drama & Komödie, Unterhaltung & Anspruch
„Mein Sohn Helen“ beginnt mit einem in mehrfacher Hinsicht vielsagenden Bild. Jemand balanciert auf einem Seil. Man sieht nur die Füße. Im Hintergrund johlen und applaudieren junge Frauen, Luftballons steigen, der Balancierende springt ab und fällt (nach einem Schnitt) auf ein einladend weiches Bett. Und er strahlt. Noch ist Finn Finn, aber die applaudierenden Anfeuerungen der „Mädels“ und der glückliche Gesichtsausdruck deuten stimmungsvoll voraus und geben die lebensbejahende Tonlage des Films vor. Nicht ernstes Drama ist angesagt, sondern eine weitgehend wohldosierte Mixtur aus schwer und leicht, aus Drama und Komödie. Auch das verlangt kluges Balancieren. Die Transgender-Problematik in einem Spielfilm fürs Fernsehen zu behandeln und dann auch noch für den ARD-Unterhaltungstermin – das wäre vor drei Jahren noch völlig undenkbar gewesen. Schon am Mittwoch um 20.15 Uhr im „Ersten“, der Platz für anspruchsvolle Sujets & vielfältige Formen, würde das Thema aus dem Rahmen fallen, der Film wäre auf diesem Sendeplatz aber näher an den Zuschauer-Erwartungen. Solch einen Themenfilm für den Freitag zu produzieren erfordert einen weiteren Balanceakt: zwischen Unterhaltungsanspruch und dem Respekt dem Thema gegenüber. Und auch beim Schreiben über den Film ist Fingerspitzengefühl angesagt. Krimi ist einfacher…
Schümanns Finn/Helen nimmt den Zuschauer für sich ein
Dass der Balanceakt „gefühlt“ gelingt, ist in erster Linie das Verdienst von Jannik Schümann. Der 22jährige Schauspieler, dank seiner markanten Gesichtszüge gern als Antagonist Marke Intrigant besetzt, nimmt den Zuschauer nicht nur bei der Hand, wie es jede Hauptfigur in einem klassisch dramatischen Film tut, nein, sein offener Blick, die von innen nach außen gekehrte Klarheit, diese Selbstgewissheit, die er seiner Figur allen Widerständen und Kränkungen zum Trotz mit auf den Weg gibt, dieses Strahlen, das schon im ersten Bild ins Auge sticht, knüpfen ein emotionales Band zwischen Figur und (geneigtem) Zuschauer. Selbstredend nicht unwesentlich für die Wirkung des Films ist die Attraktivität Schümanns sowohl als Finn als auch als Helen. „Als die ersten Muster mit Helen kamen und der Colorist ‚von diesem schönen Mädchen’ schwärmte und dabei nicht wusste, dass es ein verkleideter Junge war, wurde mir klar, dass wir alles richtig gemacht haben“, sagt Regisseur Gregor Schnitzler („Spieltrieb“). Alles richtig gemacht zumindest für einen Film, der eine große Zuschauerschaft für ein aktuelles Zeitthema (nicht nur Dank Conchita Wurst) sensibilisieren möchte – und kein Krimi ist. Vorbildlich wurde die psychologische und gesellschaftliche Transgender-Problematik eines Mannes, Ende 30, der sich im falschen Körper wähnt, im „Polizeiruf 110 – Der Tod macht Engel aus uns allen“ mit Lars Eidinger und Matthias Brandt erzählt. Sicher gibt es andere Möglichkeiten, die neue nübersichtlichkeit beim Mann- und Frausein im Fernsehfilm emotional und diskursiv zu fiktionalisieren. Wir warten darauf.
Soundtrack: Snow Patrol („Shut Your Eyes“), Johnny Cash („Solitary Man“), Wilco („Black Moon“), Without Gravity („Waterfall“), Beth Orton („This one’s gonna bruise“), The Kinks („Lola“), Aimee Mann („Soon enough“), Ray LaMontagne („Trouble“), The Gutter Twins („Down The Line“), Beth Jeans Houghton („Dodecahedron“), Placebo („Running up that Hill“), Kaki King („Pull me out alive“), Ambulance Ltd. („Anecdote“), Leo Soul („Good Place“), The Strangeloves („I want Candy“), Justin Currie („Half of Me“), Tujamo & Plastik Funk („Who“), Scott Matthew („For Dick“), R.E.M. („Fall on Me“)
Auch ein Film über Liebe und Akzeptanz
Die gelegentlich doch arg ins Wohlfühlgenre driftende Dramödie „Mein Sohn Helen“ ist zumindest schon mal ein Anfang. Dass da besonders in der ersten Filmhälfte Erklärsituationen geschaffen werden müssen, um den Zuschauer auf den nötigen Informationsstand in Sachen Transgender und geschlechtsangleichende OP zu bringen, versteht sich von selbst. Autorin Sarah Schnier („Mona kriegt ein Baby“) gelingt das größtenteils schlüssig; die meisten Figuren im Film sind schließlich auch keine Experten für Transsexualität. Dramaturgisch zu grob gerastert sind dagegen die meisten Nebenfiguren (von den Schülern bis hin zu den extrem überflüssigen Großeltern – jeder nimmt eine typische Stellvertreterfunktion ein), auf denen die Bürde eines gewissen Zeige-Gestus’ lastet. Entsprechend ist der Film in den Momenten am überzeugendsten, in denen er sich von seinem „Hauptthema“ löst und sich auf die emotionalen Zwischentöne zwischen Vater und Sohn einlässt. Heino Ferch spielt den Witwer mit dem großen Herzen ähnlich überzeugend wie in „Wenn es am schönsten ist“, einem anderen Vater-Sohn-Drama. Dem überdeutlichen, zwanghaft fröhlichen Happy End zum Trotz überzeugt Schnitzlers Film immer dann, wenn Liebe & Lebenslust, Toleranz & tiefes Verstehen im Handeln sichtbar werden. Dann geht es um ein universales Thema, das im Leben wie im Melo zuhause ist: um den Wunsch, geliebt zu werden als der, der man ist. (Text-Stand: 22.3.2015)