Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Jahrelang herrschte Funkstille zwischen Stammhalter Matthiesen (Matthias Habich) und seinen drei Töchtern. Viel erwarten konnten sie von dem nordisch herben Raubein noch nie. Nachdem ihre Mutter einst das Weite gesucht hatte, verfiel der Vater dem Alkohol. Jetzt ist der Sturkopf vollends am Boden. Der ehemalige Reiterhof in Mecklenburg-Vorpommern ist verkommen und steht kurz vor der Pfändung und auch der Alte selbst tickt mitunter nicht mehr richtig. Mit ins Unglück gerissen, hat er auch seinen einzigen Freund, den Tierarzt Gernot (Thomas Neumann). Mögen seine schönen Töchter auch umtriebiger sein als er: Einzelgänger und offenbar mit dem Loser-Gen ausgestattet sind auch sie, beruflich – und beziehungstechnisch sowieso. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Da ist Esther (Julia Jäger), die Älteste, die gerade ihren Job verloren hat und mit ihrem traurigen, adipösen und polizeilich gesuchten Sohn David (Rouven David Israel) einen Zufluchtsort sucht. Da ist die attraktive Rahel (Ulrike C. Tscharre), die ihre Modefirma in den Sand gesetzt hat und nun um ihr Elternhaus kämpft, so wie sie es immer macht: mit den Waffen einer Frau. Und da ist Thirza (Anja Antonowicz), die Jüngste, die Schriftstellerin werden möchte, aber ihren Weg noch nicht gefunden hat. Dass ihr Vater ein von Herzen zynischer Grantler ist, nehmen ihm die drei kaum krumm. Dafür sind sie ihm zu ähnlich: cool gescheitert – darauf erst mal einen Schnaps! Vielleicht bietet sich ihnen ja ausgerechnet mit dem maroden Hof eine neue Chance?
Foto: Degeto / Nicolas Maack
Tanzen und Saufen auf dem Vulkan
Vier Hauptfiguren, denen das Wasser bis zum Hals steht, beleben den außergewöhnlichen ARD-Freitagsfilm „Matthiesens Töchter“. Nicht nur, dass sie bei aller Existenzangst und mit Hochprozentigem im Kaffeepot ein flottes Tänzchen auf dem Vulkan hinlegen, macht diese vom Stoff her klassische Tragikomödie zu einer vornehmlich leicht goutierbaren Sache. Selbst die Demenz-verdächtigen Aussetzer des betagten, zeitweise beängstigend fatalistischen Macho-Helden sind der guten Laune, die der Film dem Zuschauer vermittelt, keineswegs abträglich. „Matthiesens Töchter“ kommt vielmehr mit einer angenehm entspannten Haltung daher: So ist das Leben, so kann es einen treffen. Andere dafür verantwortlich machen bringt nichts. Und man kann selbst etwas gegen die Misere tun, aber man sollte sich nicht verrückt machen und nie den Spaß am Leben verlieren. Dass das alles besser zu mehreren geht als allein, gehört selbstverständlich mit zum fernsehfilmspezifischen Wohlfühlsubtext, den Autor Sathyan Ramesh einem in gut verträglichen Dosen verabreicht. Und so gipfelt der Film in einem Happy End, das die Bedingungen für das glückliche Ende und das dramaturgische Muster selbst ironisch zur Schau stellt. Und das Ende hält darüber hinaus dem ach so kritischen Zuschauer den Spiegel vor, zeigt ihm, wie sehr auch er sich ein Happy End für diese liebenswert rustikalen Figuren wünscht. Eine Geschichte in der Geschichte, die die jüngste Tochter am Ende zum Besten gibt, stimmt einen melancholisch. Dass sie nicht das „wahre“ Ende erzählt, darüber dürfen sich nach 90 Minuten die Zuschauer doppelt freuen.
Foto: Degeto / Nicolas Maack
Matthiesens Ponderosa im wilden Osten
Man kann bei der Geschichte vom dickköpfigen Matthiesen-Clan emotional mitgehen, man kann sich als Zuschauer aber auch von vornherein an der Machart lustvoll festbeißen – und darüber die Story als weniger ernstzunehmend erachten. „Matthiesens Töchter“ arbeitet mit Western-Versatzstücken und wirkt wie eine Variation der „Bonanza“-Familienverhältnisse: ein Vater mit drei Töchtern, die zusammen Haus und Hof verteidigen müssen. Im Vorspann reiten sie wie die legendären Cartwrights durch die Prärie des wilden Ostens. Wenig später marschieren die vier in Showdown-Manier in Richtung Dorfkneipe, in der bald kräftig geprügelt wird. Sein Gewehr hat der alte Matthiesen, den Habich in seiner unverwechselbaren Art wunderbar als störrisch-unverschämten Egomanen verkörpert, ausnahmsweise einmal zuhause gelassen; ganz im Gegensatz zu einer Szene, in der er in seiner Verzweiflung und offenbar im Anflug einer seiner dementen Schübe, eine Bank zu überfallen versucht.
Launige Dialoge sind das Salz in der Geschichte
„Du siehst gut aus, Papa“, sagt Esther und Matthiesen gibt das Kompliment auf seine Art zurück: „Und du bist alt geworden.“ An anderer Stelle bezeichnet er seine Mädels als „drei herb gealterte Töchter“. Auch Esther kann bald anders: „Er lebt nicht mehr lang, drum die Unrast.“ Und als eine Tochter fragt: „Tust du mir einen Gefallen?“, kontert der Alte, „Wozu, ich hab dir dein Leben geschenkt.“ Austeilen und einstecken, das können die Matthiesens – und alles unverschämt zu ihren Gunsten auslegen: „Ich hab dich nie um was gebeten“, so der Alte, der seinen Freund mit in den Ruin reißt. „Nur, wenn du mich um was gebeten hast“, kontert der. Darauf Matthiesen: „Was lässt du dich auch so ausnutzen von mir!“
Foto: Degeto / Nicolas Maack
Liebevoll-stimmiges Miteinander der Gewerke
Ganz ausgezeichnet tragen die Ausstattung und die Bildgestaltung von Martin Langer („Duell in der Nacht“) zum unverkennbaren Western-Look des Films bei. Ebenso liebevoll (hand)gemacht klingt der Countrymusik-Score von Dominik Giesriegl. Und auch die Schauspieler sind ideal gecastet (Tscharre & Jäger sehen tatsächlich aus wie Schwestern) – und bekommen durch die trockenen, von ihrer Beiläufigkeit lebenden Dialoge, die Ramesh ihnen ins Textbuch geschrieben hat, richtig gut was zu tun. Aber auch die kinotypische, Atmosphäre schaffende Politik der Blicke (ganz stark eine „Liebesszene“ zwischen Tscharre und Israel als Tante & Neffe) unterscheidet „Matthiesens Töchter“ vom Großteil der herkömmlichen TV-Unterhaltungsfilme, die sich allein auf die Handlung verlassen anstatt auf vielschichtige Charaktere mit Eigensinn. Es sind, wie auch Regisseur Titus Selge („Ein Reihenhaus steht selten allein“) sagt, die epischen Pausen, die diese zeitgenössische Western-Dramedy so besonders macht: „die Pausen vor einer Antwort, die Pause zwischen zwei Blicken, die Pause, in der ein ganzes Leben sichtbar wird.“ (Text-Stand: 6.3.2016)