„Irgendjemand hat es für eine gute Idee gehalten, Mariele Millowitsch und Hinnerk Schönemann anlässlich der dreißigsten „Marie Brand“-Episode mit einem Tempo-30-Schild zu fotografieren. Im Bildtext ist zudem von einer „verkehrsberuhigten Zone“ die Rede. Das Motiv verdeutlicht unfreiwillig das Problem der seit 2008 ausgestrahlten und heftig in die Jahre gekommenen Reihe: Den Filmen mangelt es mittlerweile erheblich an Tempo. Das gilt auch für die Hauptfiguren, die sich bereits seit geraumer Zeit nicht mehr weiterentwickeln. Bei Marie Brand lässt sich im Gegenteil fortschreitende Regression diagnostizieren: Von der einstigen und nach wie vor im Vorspann verdeutlichten Genialität – die Bilder zeigen sie beim gleichzeitigen beidhändigen Schreiben – ist kaum etwas übrig geblieben. Stattdessen sind die Hauptkommissarin und ihr Partner in einem quasipädagogischen Lehrerin/Schüler-Verhältnis gefangen, das mitunter auch Mutter/Sohn-Züge trägt. Die früher witzigen Merkmale, mit denen Schönemann seine Rolle versieht, etwa das kieksige Quieken, wenn jemand Jürgen Simmel bei einer seiner kleinen Großmäuligkeiten ertappt, wirken längst wie Manierismen.
Gleiche Beobachtungen lassen sich auch bei anderen langlaufenden ZDF-Reihen machen, und tatsächlich leidet beispielsweise „Ein starkes Team“ unter ähnlichen Defiziten. Andererseits zeigt „Wilsberg“ regelmäßig, wie sie vermieden werden können: durch eine Auffrischung des Personals sowie durch gute Drehbücher mit fesselnden und nach Möglichkeit interessant besetzen Gastfiguren. Die Jubiläumsfolge ist ein anschauliches Beispiel für dieses „Marie Brand“-Manko: Ingrid Kalteneggers Geschichte gewinnt dem zentralen Duo keinerlei neue Aspekte ab, macht aber auch viel zu wenig aus den gut besetzten Nebenrollen.
Die Gegen-Meinung:
„Neben den üblichen Kabbeleien und Eifersüchteleien zwischen den beiden Ermittlern geht es im Hintergrund auch um ernsthafte Themen wie Organspende und den Wert menschlichen Lebens. Das inzwischen ideal eingegroovte Team Millowitsch/Schönemann macht den 30. Fall im 14. Jahr wieder zu einem großen Krimi-Spaß, manchmal ziemlich schräg.“ (TV-Spielfilm)
Dabei ist die Handlung durchaus facettenreich, zumal die Autorin einen Weg gefunden hat, das Thema Organtransplantation mal ganz anders zu erzählen. Im Vordergrund stehen Trauma & Trauer: Eine junge Frau ist nach einer Routineoperation ins Koma gefallen. Der Klinik ist kein Vorwurf zu machen, sie litt unter einer äußerst seltenen Blutgerinnungsstörung, aber nun ist der zuständige Arzt an einer Lungenembolie gestorben, und weil er vorher offenbar niedergeschlagen worden ist, gilt der Vater des Mädchens umgehend als Hauptverdächtiger: Joe Krämer (Stipe Erceg) war Profiboxer, sitzt eigentlich wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis, profitiert derzeit aber von den Vorzügen des offenen Vollzugs und ist untergetaucht. Der Vollständigkeit halber führt das Drehbuch einen zweiten Mann ein, der ebenfalls ein Tatmotiv hätte: Florian Groth (Stephan Bissmeier) konnte den nunmehr toten Kollegen nicht leiden, hält sich für deutlich kompetenter und hat gute Aussichten, zum Nachfolger als Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin aufzusteigen. Dieser Nebenstrang ist jedoch nur deshalb interessant, weil Brand ihn noch aus gemeinsamen Studienzeiten kennt.
Natürlich wirft Kaltenegger auch einige Fragen auf, wie sie für jeden Krimi obligat sind. Welche Rolle spielt zum Beispiel Maler Fassbender (Martin Skoda), der gemeinsam mit seiner Tochter Mathilda (Paraschiva Dragus) den Klinikflur streicht? Die Fassbenders leiden unter dem Verlust des zwei Jahre zuvor ums Leben gekommen Sohnes; die Tragödie hat zu einer verhängnisvollen Sprachlosigkeit geführt. Leider kommen die einzelnen Familienmitglieder viel zu kurz, um als Figuren echte Komplexität entwickeln zu können. Von der Mutter (Dagmar Leesch) heißt es bloß, sie habe zu Gott gefunden, was der Film durch den einen oder anderen Kirchenbesuch belegt. Schauspielerisch ungleich reizvoller sind die Szenen mit Schönemann und Henriette Richter-Röhl, auch wenn der Vergleich wegen des völlig anderen Vorzeichens unfair ist: Simmel verguckt sich in Krankenschwester Hiltrud, die sich erstaunlich viel Zeit für ihn nehmen kann. In diesen romantisch-komischen Momenten wirkt der Hauptdarsteller deutlich motivierter als in den Routineszenen mit Millowitsch, zumal es in der Tat recht witzig ist, wenn sich der hormonell überforderte Kommissar als „Kripo-Jürgen“ vorstellt oder entgeistert reagiert, als „Hilli“ ihn in den Schockraum bringen will. Gelungen ist auch der Spagat zwischen dieser heiteren Ebene und dem eigentlichen Thema: Tagein, tagaus wacht eine Mutter (Alexandra Finder) in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen neben dem Bett ihrer Tochter, weil ihr niemand mitgeteilt hat, dass das Mädchen nie wieder aufwachen wird.
„Marie Brand und der überwundene Tod“ ist die vierte Arbeit von Regisseurin Judith Kennel für die Reihe, erreicht jedoch nicht die Intensität ihrer Inszenierungen für „Unter anderen Umständen“; selbst die unvermeidliche Verfolgungsjagd ist nicht besonders spannend. Das Krimidrama ist das zweite verfilmte Drehbuch von Ingrid Kaltenegger, die zuvor mit der schmerzlich-schönen Tragikomödie „Das Glück ist ein Vogerl“ (2020, über einen Musiklehrer mit einem ganz besonderen unsichtbaren Freund) ihren eigenen Roman adaptiert hat.