„Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“, sagte Marcel Reich-Ranicki, kurz nachdem er eine Studienfahrt in die Bundesrepublik dazu genutzt hatte, dem ungeliebten Polen den Rücken zu kehren und sich mit seiner Frau Tosia endlich im „Land der Kultur“ niederzulassen. Es war im Jahr 1958. Es war die Geburtsstunde der öffentlichen Person MRR, dem gefürchteten Kritikerpapst, der mit großer Liebe Literatur lobt, aber auch mit Schaum vor dem Mund verreißen kann. „Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben“ erzählt nicht von diesem streitbaren und umstrittenen Zeitgenossen, Michael Gutmann und Dror Zahavi konzentrieren sich vielmehr auf jenen Reich-Ranicki, der Deutschland als Land der Unkultur erfahren musste. Seine Biographie jener Jahre liest sich dramatisch: 1920 in Polen geboren, aufgewachsen in Berlin, 1938 ausgewiesen, ab 1940 Bewohner des Warschauer Gettos, 1942 Deportation der Eltern zur Ermordung nach Treblinka, 1943 Flucht aus dem Getto und 19 Monate versteckt bei einem polnischen Ehepaar…
Man muss jenen nach außen oft so groß tönenden Reich-Ranicki nicht mögen, um diesen Film zu mögen, der sich so leise gibt und der auch in der Darstellung des zukünftigen Großkritikers keine seiner so berühmten Manierismen (das rollende R) antizipiert. „Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben“ trägt die doppelte Bürde, Biopic und Drama über den Natio-nalsozialismus zu sein. Beide Genres gelingen nur selten richtig gut. In diesem Fall machten Autor und Regisseur alles richtig. Der Film wurde nicht überfrachtet mit biographischen Fakten, gesucht wurden nachhaltige Situationen und sinnstiftende Details, ausdrucksstarke Szenen und atmosphärische Bildkompositionen. Die Erfahrungen eines Lebensabschnitts gerinnen zu einer Essenz von großer Intensität.
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Autor Gutmann sah seine Hauptaufgabe darin, „eine Leitmelodie zu entwickeln, die sich trotz Zeitsprüngen und Ortswechseln durch die ganze Geschichte zieht und verhindert, dass sie in Episoden zerfällt“. Das ist ihm großartig gelungen. Ein Kernstück der vorzüglichen Dramaturgie ist die Rahmenhandlung im Warschau des Jahres 1949. Marcel Ranicki, wie er sich damals nannte, soll seine Position als polnischer Generalkonsul und Geheimdienstmitarbeiter in London missbraucht und mit „zersetzenden Elementen“ kollaboriert haben. Im Rahmen etlicher Verhörszenen erzählt er sein Leben. Aus einem Trick, um die vielfältigen Informationen zu bündeln, das Erlebte zu akzentuieren, indem Ereignisse in Bildern, andere „nur“ mit Worten erzählt werden, erwächst eine eigene Qualität: MRR ist – und er war schon damals – ein großartiger Erzähler. Das hat ihm Sympathien eingebracht und immer wieder in größter Not geholfen. In diesem Fall hilft es auch, in die erschütternde Geschichte intellektuelle Zwischenwände einzuziehen. Der Film wird so zum großen Drama ohne jeden Hang zum Melodramatischen. Auch auf die seit Jahrzehnten immergleiche Nazi(film)-Ikonografie wird weitgehend verzichtet.
Die Krönung dieses herausragenden Polit-Biopics sind die Schauspieler. Matthias Schweighöfer gibt die andere Seite des öffentlichen, des späten Marcel Reich-Ranicki: den jungen Mann, der überleben muss und für den – gerade aus diesem Grund – die Literatur zum Überlebensmittel wird. Die Kraft der Worte und die Allgegenwärtigkeit des „praktischen“ Intellekts spürt man in Schweighöfers Spiel. Katharina Schüttlers Tosia hingegen steht die Überlebensangst ins Gesicht geschrieben. Sie ist der mollgetönte Kontrapunkt zur Hauptfigur. „Wir sind anders als die andern, deshalb müssen wir die besten sein“, diese Lebensmaxime seiner Mutter, die sich Reich-Ranicki früh zu Herzen nimmt, erinnert an den Familienmythos, wie er in „Krupp – Eine deutsche Familie“ besungen wurde. Das ist aber auch das Einzige, das die beiden Filme gemeinsam haben.