Lotte Jäger (Silke Bodenbender), die Potsdamer Sonderermittlerin für ungeklärte Fälle, verschlägt es in ein brandenburgisches Dorf, in dem vor 16 Jahren eine junge Frau nach einer versuchten Vergewaltigung brutal getötet wurde. Der Täter stach unzählige Male auf das Opfer ein. Der damals verantwortliche Kommissar (Hansjürgen Hürrig) verbiss sich in den Fall, konnte aber keinen der vier Verdächtigen der Tat überführen. „Die haben alle zusammengehalten“, war sein Eindruck. Jetzt darf Jäger ihr Ermittlungsgeschick unter Beweis stellen. Im Gepäck hat sie das jahrelang unauffindbare Video, das in der Mordnacht anlässlich der Aufstiegsfeierlichkeiten des örtlichen Fußballvereins gedreht wurde. Jemand hat den Film der Polizei zugespielt. Das ist der Grund, weshalb der Fall wieder neu aufgerollt wird. Doch sehr viel gesprächiger sind die meisten Bewohner des Dorfes auch heute nicht. Ob der Wirt des Dorfgasthofes (Alexander Hörbe), ob der damals Hauptverdächtige (Sergej Moya) oder der Flugzeugmechaniker Grasso (Christoph Letkowski), der mit Jäger zu flirten versucht – die LKA-Frau findet zunächst keine Hinweise darauf, wer der Täter sein könnte. Außerdem hat sie sich noch immer nicht von den zwölf Jahren in der Mordkommission erholt. Panikattacken sind ihre ständigen Begleiter. Erst als ihr Kollege aus dem Archivkeller, Rechercheprofi Kurt Schaake (Sebastian Hülk), ins Dorf kommt, gibt es einen Durchbruch: Sie finden die Tatwaffe. Und dann gab es da noch eine Tote. Ist sie tatsächlich mit dem Auto gegen einen Baum gerast? War der Mord 2001 vielleicht doch keine Affekttat, sondern Teil eines politischen Komplotts?
„Lotte Jäger und die Tote im Dorf“, der zweite Film mit Silke Bodenbender als „Problemermittlerin“ in der brandenburgischen Pampa, beginnt als typisches Dorfkrimi-Drama: eine Hand Verdächtiger, undurchschaubare Menschen, Schweigen, Halbwahrheiten, Angst. Seit 2001 ist in diesem Dorf (parallel zur politischen Weltlage) nichts mehr so, wie es einmal war. „Die sind alle für mich gestorben“, so einer, der zum Kreis der Verdächtigen gehörte und der sich, wie er sagt, das Leben nehmen wollte. Misstrauen und Zwietracht herrschten seitdem hier zwischen den Leuten. Dennoch sind alle geblieben. Auch der Hauptverdächtige. Der scheint noch angeschlagener. Wie ein Affektmörder wirkt er nicht. Als Zuschauer geht man gemeinsam mit der Heldin auf Erkundungstour dieses Mikrokosmos‘, versucht, sich ein Bild zu machen. Da sind anfangs viele Namen im Spiel. Sie sind nicht immer sofort den Gesichtern zuzuordnen. Einige Figuren haben nur Kurzauftritte. Dafür ist die Heldin umso präsenter. Lotte Jäger gibt die Erzählperspektive vor, und sie bestimmt mit ihren Aussetzern maßgeblich die Tonlage des Films. Mag diese hoch sensitive Frau durch ihre seelische Disposition die Menschen im Dorf und ihr Leiden an der unaufgeklärten Tat auch besser verstehen als vor 16 Jahren der alles andere als feinfühlige Hauptkommissar der alten Schule, so wahrt sie (professionelle) Distanz, offenbar, um sich nicht völlig zu verlieren.
Der Film unterscheidet sich deutlich von herkömmlichen Ermittlerkrimis. Der Autor, der dreifache Grimme-Preisträger Rolf Basedow („Im Angesicht des Verbrechens“), verzichtet auf klassische Befragungen oder Verhöre, es gibt auch keine Polizeistation. Mal sucht sich Jäger ein ruhiges Plätzchen in der Kneipe, mal steigt sie zu einem Verdächtigen ins Flugzeug, meistens aber „überfällt“ sie die zu Befragenden an ihren Haustüren. Anders als die „Polizeiruf“-Kommissarinnen, die in ähnlich verlassenen brandenburgischen Käffern Mordfälle lösen mussten, hat die Ermittlerin die meiste Zeit keinen direkten Ansprechpartner. Explizite Einschätzungen des Falles und brisanter Situationen bleiben dem Zuschauer erspart. Dafür spielt das visuelle Moment eine tragende Rolle im Film von Franziska Meletzky. Der Zuschauer sieht Lotte Jäger nicht nur beim Ermitteln zu, sondern er muss auch erkennen, dass es ihr psychisch nicht gut geht. Daraus ergibt sich auch ein filmästhetischer Reiz. Immer wieder rückt Bella Halbens sinnliche Kamera der Heldin mit Großeinstellungen auf die Pelle; mal ist nur ein Auge oder ihr Mund zu sehen (in den sie Beruhigungspillen einwirft). Eindrucksvoll unterstützt wird die Cadrage durch die suggestive Montage, mit der vor allem die Stimmungsschwankungen der Heldin vermittelt werden und die Abwechslung in die Handlung bringt. Dafür sorgt auch das Video, von dem der Zuschauer nach und nach etwas mehr zu sehen bekommt. Auch hier gilt wieder das spezielle Rezeptionsprinzip des Films: „Ich sehe“ und ziehe – so gut es geht – meine Schlüsse. Auch wenn sich im Schlussdrittel der Horizont des Verbrechens weitet in Richtung auf die Dorfhonoratioren, die alten Kader, die mit einer Mülldeponie nicht nur die Gemeindekasse füllten, so erreicht „Lotte Jäger und die Tote im Dorf“ weder narrativ noch dramaturgisch die Vielschichtigkeit und betörende Komplexität des Auftaktfilms „Lotte Jäger und das tote Mädchen“, der zudem DDR-historisch und gesellschaftspolitisch sehr viel konkreter und damit um einiges faszinierender war.
Das Zeug zur Krimidrama-Reihe aber haben diese Figur und das Motiv der ungeklärten alten Fälle allemal. Nachdem dieses Jahr die letzte Episode von Hannelore Hogers „Bella Block“ ausgestrahlt wurde und bald auch Senta Bergers „Unter Verdacht“ ausläuft, könnte das ZDF neben Lisa Wagners „Kommissarin Heller“ einen weiteren Premium-Krimi mit einem weiblichen Einzelkämpfer gut gebrauchen. Zumindest ein Film im Jahr sollte mit diesem exquisiten Konzept denkbar sein. Eine Ermittlerin mit seelischem Handicap, das ihr allerdings bei der Arbeit zum Vorteil gereichen könnte (diesen Beweis trat sie allerdings bisher noch nicht deutlich erkennbar an), das fehlt in der ansonsten proppenvollen deutschen Krimilandschaft, nachdem die ARD-Degeto der alkoholkranken Psycho-Kommissarin Louise Boni die Dienstmarke für weitere Krimi-Dramen nach Oliver Bottinis Romanen entzogen hat. Professionelle Polizeiarbeit zwischen Panikattacken und Tablettenmissbrauch – Silke Bodenbender überzeugt als Protagonistin, bei der das attraktive Äußere und die innere Verfassung in einem aufregenden Spannungsverhältnis stehen. Auch Sebastian Hülk gefällt als Rechercheur, zunächst im Hintergrund, als unaufgeregter Stubenhocker und Akten-Wälzer, später dann als seelischer Beistand und Antriebskraft bei der Lösung des Falls. Sollte „Lotte Jäger und…“ in Reihe gehen, sollten die narrativen Möglichkeiten, die sich durch den zeitlichen Abstand zum Verbrechen ergeben, wie im ersten Film stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen oder die Veränderungen der am Fall Beteiligten werden als Probleme der Ermittlungen benannt, bleiben in „Lotte Jäger und die Tote im Dorf“ aber unkonkret. Biographische Brüche werden im Detail nicht erzählt. Die Geschichten der möglichen Täter und das Phänomen „ein ganzes Dorf als Opfer“ werden nicht vertieft. Das Drama muss selbst am Montag im ZDF gegenüber dem Whodunit-Krimi (viele Verdächtige statt markante Einzelschicksale) zurückstehen. (Text-Stand: 4.8.2018)