Eine schöne Kommissarin, die zuhören kann und Biss entwickelt
Lotte Jäger (Silke Bodenbender) war zwölf Jahre bei der Mordkommission. Ihrer Psyche tat das nicht gut. Jetzt versucht sie, es ruhiger angehen zu lassen: als Sonderermittlerin für ungeklärte Fälle. Ihr Kollege Schaake (Sebastian Hülk) ist Akten-Fetischist, hockt im staubigen Archiv-Keller und versorgt Lotte mit den nötigen schmutzigen Informationen aus grauer Vorzeit. Ein aktueller Treppensturz am Alexanderplatz lässt die beiden einen Mord aus dem Jahr 1988 wiederaufnehmen. Das heutige Opfer, Jörg Teschke (Lucas Pistor), wurde damals wegen des Mordes an seiner Freundin Birgit (Isolda Dychauk) in der DDR zu lebenslanger Haft verurteilt. Jetzt hat der Mann, der stets seine Unschuld beteuerte, offenbar denjenigen wiedergesehen, der durch seine Falschaussage dazu beitrug, dass er viele Jahre hinter Gittern saß. Dieser fühlte sich verfolgt und hat Teschke wahrscheinlich die Treppe heruntergestoßen. Sehr viel Konkretes haben die Ermittler nicht – ein Foto, ein paar Zeitungsartikel und das Wissen darum, dass der Fall damals von der Mordkommission an die Stasi abgetreten wurde. Aber Schaake wühlt weiter und Lotte Jäger beißt sich zunehmend fest in diese offensichtliche Vertuschungsaffäre, bei der „für eine höhere Sache“ mal eben das Menschenleben eines Einzelnen geopfert wurde. Und so sitzt sie bald der Mutter der Toten (Marie Gruber), ihrer besten Freundin Sonja (Anna Maria Mühe), mit der jene Birgit im legendären Schloss Hubertusstock 1988 „kellnerte“, einem Ex-Politbüro-Funktionär, der nach der Wiedervereinigung erst richtig Karriere gemacht hat (Andreas Schmidt-Schaller), und einem ehemaligen westdeutschen Geschäftsmann (Robert Hunger-Bühler) gegenüber, löchert sie mit Fragen, bohrt wie eine Journalistin, lächelt verbindlich und – bekommt Antworten.
Eine Sonderermittlerin besonders gut & beweglich in Szene gesetzt
Noch eine neue Kommissarin! Es wundert einen, dass Silke Bodenbender, einer der blond gelockten Fernsehfilm-Lieblinge beim Krimisender ZDF, nach ihrem körperbetonten Einsatz in „Auftrag Schutzengel“ (2009) nicht schon früher längerfristig von Mainz eine Dienstmarke verpasst bekommen hat. Vielleicht hat sie auch nur gewartet auf die richtige Ermittlerrolle – und die hat man ihr nun mit Lotte Jäger angeboten. Eine Sonderermittlerin, die lieber zuhause in Potsdam in der Sonne faulenzt und sich vom Bohème-Leben ihres Musikerfreundes anstecken lässt. Entsprechend locker geht Bodenbenders Heldin an den Fall heran, bevor sie richtig Biss entwickelt. Das entspricht ihrem Charakterzug, so lang wie möglich Distanz zu halten, das Leid der anderen nicht mehr (nach ihrer schweren Zeit an der Kripo-Front) so stark an sich herankommen zu lassen, um dann irgendwann aus der Deckung zu preschen. Diese persönlich motivierte Zuspitzung ist gleichsam dramaturgisch clever. Anfangs düst die schöne Sonderermittlerin mit Cabrioflitzer und wilder Mähne durchs Brandenburgische, um die ersten zu Befragenden aufzusuchen. Den DDR-Kripo-Mann fängt sie beim Angeln ab und für seine sachdienlichen Antworten muss sie ihm beim Fischeausnehmen helfen. Der Krimi nimmt sich Zeit, der Charakter stellt sich vor, die Geschichte baut sich langsam auf. Man spürt, hier waren Profis am Werk: Nicht umsonst erinnert das sich persönlich beim Zuschauer Vorstellen der Heldin an den Einstieg in die legendären „Sperling“-Krimis. Für den Auftakt dieser Reihe schrieb 1996 wie jetzt auch für „Lotte Jäger und das tote Mädchen“ der dreifache Grimme-Preisträger Rolf Basedow („Im Angesicht des Verbrechens“) das Buch.
Soundtrack: Natalie Cole („This will be“), Beautiful South („Perfect 10“), The Kinks („Dedicated Follower of Fashion“), Kim Wilde („You keep me hanging on“), Modern Talking („You’re my Heart, you’re my Soul“)
Dramaturgisch, wahrnehmungspsychologisch & filmisch clever
Genau genommen ist die Handlung eine Aneinanderreihung von Befragungen und Gesprächen, die anfangs unterbrochen werden von den luftigen Wegen, die die Kommissarin zurücklegen muss. Dadurch atmen die Ermittlungen etwas von der Frische eines Sommertags. Je stärker das Drama und je packender der Fall, umso mehr verzichtet Autor Basedow (oder gab erst die Regie diesen Rhythmuswechsel vor?) auf die atmosphärischen Zwischenschnitte. Dafür werden die Ermittlungen in der zweiten Hälfte verstärkt von telegenen Rückblenden ins Jahr 1988 unterbrochen. Der an sich dünne Handlungsfaden, an dem sich die Heldin entlang hangelt, wird so gar nicht mal als solcher wahrgenommen. Auch verspielt sich durch diese abwechslungsreiche Dramaturgie die Dialoglastigkeit vieler Szenen. Und dass durch die kluge Akzentuierung zwischen hohem Wortanteil und spannenden Rückblenden den vermittelten (politischen) Inhalten problemlos gefolgt werden kann, ist ein weiterer Pluspunkt von Basedows Arbeit. Dramaturgisch und wahrnehmungspsychologisch ist dieser „Lotte-Jäger“-Einstand also eine sehr gekonnte Angelegenheit. Auch filmisch fand der Autor in Regisseurin Sherry Hormann („Spreewaldkrimi – Die Tote im Weiher“) seinen Meister. Hormann wiederum lebt vor allem von Sandy Saffeels Montage, die zusammen mit Silke Bodenbender, die man lange nicht so attraktiv gesehen hat, der Motor dieses Films ist.
Volksverbundene Einblicke in die versunkene Welt der DDR
„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, sagt Lotte Jäger gegen Ende der Ermittlungen. Dass Rolf Basedow seine Reise in die unrühmliche Geschichte der DDR anders beschließt als ein herkömmlicher Whodunit-Krimi, liegt nahe: Das System hat nicht nur immer Recht, es sitzt bekanntlich auch (gelegentlich heute noch) am längeren Hebel. Dennoch liefert „Lotte Jäger und das tote Mädchen“ Einblicke in eine Zeit und eine politische Weltlage, die nicht nur für Nachgeborene heute schwer vorstellbar ist. Dafür, dass die ehemaligen Bürger der DDR häufig nur in ein, zwei Szenen zu Wort kommen, sind sie weitgehend klischeefrei gezeichnet und vor allem in ihrer historischen Widersprüchlichkeit sehr gut nachvollziehbar. Da ist die Verbitterung, der Trotz der Verlierer, die Bescheidenheit der Vergessenen, der Verstummten, und die weltmännische Arroganz der Gewinner. Ein bisschen schönreden ist immer dabei; aber insgesamt dominiert ein desillusionierter subjektiver Blick auf die eigene Biographie. Einen ganz besonderen Mehrwert bietet die Geschichte des ersten Falls von Lotte Jäger (nomen est omen!) durch die berühmt-berüchtigte DDR-Bonzen-Absteige, das Jagdschloss Hubertusstock, in dem hohe internationale Gäste des Politbüros auf den volkseigenen Wildbestand losgelassen wurden. Hier beginnt der Film. Im August 1988 beim multikulturellen (die nationalen Klischees lustvoll ausfabulierenden) Halali trifft der verliebte Blick des jungen Teschke die schöne Birgit. Ihre Körper berühren sich. Doch eine Pistole, Fadenkreuze, ballerfreudige Waidmänner deuten Unheil an. Die von der Montage in den ersten Minuten ausgegebene falsche Fährte (Treibjagdstimmung, Zielfernrohre und die durch den Wald rennende junge Frau) erweist sich schließlich doch als die richtige: Die schöne „Geheimnisträgerin“ liegt am Ende jener August-Nacht tot im Unterholz. Der „gemütliche“ Teil des Abends wird erst im Schlussdrittel nachgereicht. Davor gibt es allerdings schon eine kurze Führung durch die Mythen umwobene Kultstätte der untergegangenen DDR. Sherry Hormann drehte an Originalschauplätzen, dem Areal des ehemaligen Schloss Hubertusstock. So hat man als Zuschauer den Eindruck, dass die DDR noch lebt! (Text-Stand: 12.8.2016)