Per Arbeitsbühne gelangt Kommissarin Lucas (Ulrike Kriener) zur Leiche. Eine tote Jugendliche liegt aufgebahrt im Geäst eines Baumes, zwölf Meter über dem Boden. Das Opfer wohnte auf dem abseits gelegenen Aschenbachhof, einem Heim für schwer erziehbare Mädchen. Schon seit Monaten wurde Moni Kindler (Luise von Finckh) vermisst. Polly Esser (Marie Bloching), psychisch labil, versucht sich, als sie die Nachricht vom Tod ihrer besten Freundin hört, die Pulsadern zu öffnen. Ellen Lucas kann sie gerade noch retten. Als die Kommissarin abends nach Hause kommt, liegt Polly in ihrer Wohnung auf dem Bett. Sie will das Vertrauen der jungen Frau gewinnen, weil sie glaubt, dass Polly mehr weiß als sie sagt. In den Heimakten tauchen bald Hinweise auf, dass immer wieder Mädchen vom Aschenbachhof mittels einem „sonderpädagogischen Programm“ in Tschechien untergebracht wurden – auch Polly und Moni. Macht Heimbetreiber Kroiß (Arnd Klawitter) miese Geschäfte mit Jugendlichen? Und welche Rolle spielen die Heimleiterin (Jule Ronstedt) und das Jugendamt? Tom (Lasse Myhr) und Judith (Jördis Richter) finden unterdessen heraus, dass Matthieu Egginger (Frederic Linkemann), ein junger Mann aus dem Dorf, Kontakt zu den Heimmädchen hatte und einen Sexchat-Kanal betrieben hat, bei dem sich die Mädchen etwas verdient haben – und Egginger mit ihnen. Ellen Lucas wird im Lauf der Ermittlungen immer klarer, dass bei der Lösung des Falles Polly die zentrale Figur ist.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Nils Willbrandt („Für dich dreh ich die Zeit zurück“) hat bereits den letzten „Kommissar Lucas“-Krimi „Das Urteil“ inszeniert, auch für die Autoren Stefan Dähnert und Markus Ziegler ist es bereits der zweite Krimi für die ZDF-Reihe („Löwenherz“). Für die Story und die Inszenierung gilt: Konstanz ist das oberste Gebot. Seit 2003 spielt Ulrike Kriener Ellen Lucas. Die Figur hat keine große Wandlungen durchgemacht, man setzt auf Kontinuität. Ihr Stil ist sachlich, leise, unaufgeregt, gibt nicht allzu viel von sich Preis. Sie wird nicht mit privaten Problemen überlastet, und das Geplänkel mit Vermieter Max (Tilo Prückner) ist ein angenehmes Ritual. Das Team um sie herum hat sich in den Jahren verändert, aktuell sind es Lasse Myhr als Tom Brauer und Jördis Richter als Judith Marlow. Die ermitteln gemeinsam, geben sich nachts in der Kneipe auch schon mal die Kante, doch Tom, ganz Gentleman, lässt das einzige Zimmer im Gasthof seiner Kollegin und nächtigt im Auto. Die Lucas geht ihre eigenen Wege, verschweigt, dass Polly bei ihr ist, hat immer das Verhältnis zwischen dem Mädchen und ihrer ermordeten Freundin im Blick, ist voll fokussiert auf den Fall.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Regisseur Willbrandt zeigt die Beziehung der beiden schwer erziehbaren Mädchen in regelmäßigen Rückblenden als Selfie-Videos, meist aus der Sicht von Moni. Die war extrovertiert, ein Partygirl, laut, schrill, frech. Polly hingegen ist eher introvertiert, ruhig, sie fühlte sich zu Moni stark hingezogen. In den wenigen Interaktionen der beiden wird dies deutlich. Zwei Teenager auf dem Weg zum Erwachsenwerden, mit nicht gerade guten Voraussetzungen für ein Leben, in dem sie sich ihre Träume, Wünsche und Sehnsüchte erfüllen können. Zwei soziale Außenseiter, die zudem auch noch Opfer von Ausbeutung werden. Ähnlich wie der neue Rostocker „Polizeiruf 110 – Kindeswohl“ (ARD, 7.3.) thematisiert auch dieser Krimi das Abschieben schwer erziehbarer Heimkinder nach Osteuropa – hier Tschechien, da Polen – aus wirtschaftlichen Gründen. So hat die neue „Kommissar Lucas“-Episode ein Außen- und ein Innen-Thema. Hier die Strukturen von Heimerziehung und die Praxis von privaten (gewinnorientierten) Organisationen in der Jugendhilfe, da die innige Freundschaft zweier junger Mädchen, die allerdings keine richtige Balance hat, weil hier zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen. Marie Bloching, die bisher kleinere Rollen in „Das Beste aller Leben“ (hierfür gab es eine Nominierung für den Günter-Strack-Fernsehpreis für den Nachwuchs) und „Du bist nicht allein“ hatte, überzeugt in ihrer ersten Hauptrolle, spielt die Polly zwischen Verliebtsein und Verzweiflung stark. Luise von Finckh („Schloss Einstein“, „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, Fack ju Göthe 2“) hat den deutlich kleineren, aber wilderen Part, den sie ebenso gut meistert.
Fazit: „Kommissarin Lucas – Polly“, die 28. Episode der Reihe, ist ein intensiv-atmosphärischer Krimi, der ohne viel Action und inszenatorische Verrenkungen auskommt, nah an den Figuren ist und seine stärksten Momente in den Szenen zwischen der Lucas und der jungen Polly hat. Da die Autoren genug falsche Fährten auf dem Weg zur Auflösung legen, bleibt die Spannung lange erhalten, auch wenn man schon früh erahnen kann, wo die Geschichte hingeht. Die ZDF-Krimireihe hält ihr gutes Niveau. (Text-Stand: 20.3.2019)