Die Augenpartie füllt den Bildschirm. Zwei Kulleraugen, die nichts Schelmisches, nichts Kokettes haben. Die vielmehr keine Deutung, keine Rückschlüsse auf die Empfindungen des Menschen dahinter zulassen. Das Bild ist blau getönt, das Licht flackert. Die Musik leiert, kommt erst langsam, wie ein riemengetriebener Plattenspieler, auf das richtige Tempo. Der Schauplatz: eine Spielhölle. Ein Mann liegt blutend auf dem Boden. Ein anderer, aufgelöst, nicht ganz bei Sinnen, bedroht eine Frau, um einen Streifenpolizisten zum Ablegen seiner Waffe zu zwingen. Halb unter einer Konsole versteckt lauert die Kommissarin Winnie Heller (Lisa Wagner). In panischer Angst stößt die Geisel den Verbrecher weg, wird zu Boden gestoßen. Die Situation droht zu eskalieren. Der Streifenpolizist schnappt seine Pistole, zaudert aber. Anders Heller: Als der überraschte Räuber seine Waffe auf sie richtet, feuert sie.
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Einige Tage später. „Sie haben alles richtig gemacht. Beliebter als heute werden Sie nie sein“, frotzelt ihr Vorgesetzter Hinrichs (Peter Benedict), auf Winnie Hellers Eigenbrötlertum anspielend. Der Psychologin Dr. Jacobi (Lena Stolze) gegenüber reagiert Heller patzig. Unwirsch streitet sie ab, dass ihr der Todesschuss zu schaffen macht und auch, dass die Versetzung ihres Kollegen Verhoeven (Hans-Jochen Wagner), mit dem sie vier Jahre zusammen gearbeitet hatte, bei ihr Trennungsschmerzen hervorruft, wie es die Therapeutin unterstellt. Die Psychologin sieht dennoch Behandlungsbedarf: „Ich schreibe Ihnen etwas auf. Das wird Ihnen helfen.“ Zu Hause erfährt Heller, dass nach einem Wasserrohrbruch ihr Schlafzimmer unter Wasser steht und eine Woche lang nicht genutzt werden kann. Sie bricht in das verlassene, leer geräumte Haus ihres nach Karlsruhe verzogenen Kollegen Verhoeven ein und schlägt dort ein notdürftiges Lager auf. Plötzlich steht Verhoeven hinter ihr. Sie sprechen miteinander. Verhoeven ist eine der wenigen Personen, mit denen Kommunikation möglich ist. Aber dieser Verhoeven ist nur eine Halluzination … Kurz darauf hinterlässt Dr. Jacobi eine Botschaft auf Hellers Mailbox. Sie fürchte, dass einer ihrer Patienten ein Verbrechen begehen werde. Als Heller die Praxis erreicht, liegt Dr. Jacobi in ihrem Blut – schwer verletzt. Heller bekommt den Fall übertragen und den bereits aus der Vorgänger-Episode bekannten Streifenpolizisten Murat Yakin (Kay Kysela) als neuen Partner zugeteilt.
Formatkonzept und sechs der bislang acht Drehbücher der Reihe „Kommissarin Heller“ stammen von Mathias Klaschka. Diese Autorenpolitik kommt der Reihe eindeutig zugute. Es gibt – nicht nur in Deutschland – Krimireihen, deren Protagonisten regelmäßig die eigene Geschichte zu vergessen scheinen. Die Crux, wenn ein Format durch viele, vielleicht zu viele Hände geht. Klaschka dagegen greift für die achte Episode mit dem Titel „Vorsehung“ auf frühere Ereignisse im Leben der Kommissarin zurück und nutzt sie vorteilhaft, um einen psychischen Ausnahmezustand zu beschreiben. Winnie Hellers Sozialverhalten war seit jeher problematisch. „Mir steht niemand nahe. Das wissen Sie doch“, sagt sie zu ihrem Chef. Die ihr nächststehende Person ist der Kassierer einer Tankstelle, wo sie gelegentlich eine Curry-Wurst aus der Mikrowelle verspeist. Der junge Mann, auch eher Außenseiter, weiß wohl als einziger, dass sich Heller seit ihrer Kindheit für die Animationsserie „Captain Future“ begeistert. Ihre Mutter wird das Faible später begründen: Die Titelfigur ist eine Waise, ihre Eltern wurden ermordet. Die kleine Winnie fühlte sich diesem Helden emotional sehr nahe.
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Es sind diese Details, die die besondere Qualität der Reihe und insbesondere der aktuellen Episode ausmachen. Die Psychologie der Charaktere und ihre Beziehungen untereinander sind bis ins Kleinste ausgefeilt. Die schmerzhaften Nachwehen der Kindheit, der Verlust der Schwester und des beruflichen Partners, der beinahe ein Freund geworden war, der Todesschuss, schließlich die Attacke auf die Therapeutin ergeben eine seelische Bürde, der Winnie Heller bald kaum mehr gewachsen ist. Noch bewältigt sie die beruflichen Herausforderungen, aber zwischendurch und nach Feierabend ergreift die Krise Besitz von ihr. In diesen Momenten bewegt sich Heller in einer luminösen Zwischenwelt. Regisseurin Christiane Balthasar findet dafür treffliche bildliche Lösungen. Einmal sitzt Winnie Heller nachts auf einem Brückengeländer, schaut in den Himmel und wähnt sich auf Reisen durch die Galaxien. Dann wieder bevölkert sie im Geiste das leere Haus der Verhoevens, möbliert es, imaginiert eine Tischszene. Die Sequenz ist geschrieben und inszeniert wie eine Sitcom, mit Gelächter aus dem Off. Ein überzeugender Ausdruck der Einsamkeit der Heldin und ihrer heimlichen Sehnsucht nach einer funktionierenden Familie. Konsequenterweise endet der Film auf eine Weise, die manche Zuschauer irritieren wird, denn das ZDF leistet sich hier den Ausnahmefall, dass eine Ermittlerfigur zu Beginn des Films souveräner agiert als am Schluss, wenn es um die Entlarvung und Festnahme des Täters geht.
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Nicht nur die ungewöhnlich aufbereiteten Inhalte heben den Film weit über vergleichbare Programmangebote. Auch die visuelle Gestaltung ist schlicht meisterhaft. Die Szenen wurden von Bildgestalter Hannes Hubach mit ausnehmender Sorgfalt ausgeleuchtet, mit teilschattierten Gesichtern, einem modernen Äquivalent zum Chiaroscuro, der Hell-Dunkel-Malerei der Spät-Renaissance. Bilder, die auch auf der großen Kinoleinwand überzeugen würden. Jeder Moment ist präzise durchinszeniert. Schon aus der Wahl der winterlichen Wiesbadener Schauplätze ergibt sich häufig eine unaufdringliche Aussage, wie im folgenden Beispiel: Die Mutter des von Heller notgedrungen erschossenen Mannes ist Floristin. Nach dem Besuch bei der verzweifelten Frau in deren Ladengeschäft steht Heller vereinzelt auf einer Allee, die zentralperspektivisch in die Bildmitte ‒ auf einen Friedhof? ‒ zuführt. Symbolisches Motiv für ein verunsicherndes Gedankenwirrwarr, in dem der Tod eine zentrale Rolle einnimmt.
Die Hauptdarstellerin Lisa Wagner, virtuos, dabei subtil genug, nie überspitzend, die laut Stabangaben auch an den Dialogen mitwirkte, steht zwangsläufig im Fokus, ohne dass die Neben- und Kleinstrollen darüber vernachlässigt wurden. Einige der Ensemblemitglieder sind vergleichsweise häufig auf hiesigen Bildschirmen präsent, vermögen aber nicht immer so zu überzeugen wie in diesem Film. Eine exzellente Schauspielerführung bis hin zu den Randfiguren und ein gelungenes, wirklich originelles Zusammenspiel der audiovisuellen Mittel: Diese Kombination ist rar im deutschen Fernsehen. Ein Volltreffer! (Text-Stand: 17.12.2017)