Zwei Polizisten betreten eine Münchner Kneipe zu einer Vernehmung der etwas anderen Art. „Zwei Helle“, ruft der eine. Selbstvergessen hängt der zu Befragende über seinem Bier. Heimat ist dort, wo das Herz hängt. Wolfi Sturm ist zwischen Maßkrügen und lallendem Männergeraune zuhause. Aber der Ex-Kellner hat schon bessere Zeiten gesehen. So wie auch jener Mann, der unbemerkt in der Millionenstadt München verhungert ist. Ein vergilbtes Foto einer Frau hatte er bei sich. Es war die Liebe seines Lebens. Der Tote war Stammgast dort, wo Wolfi früher bedient hat. Über jene Soraya kann auch der Geschichten erzählen. Kein Wort verliert er darüber, dass auch er ganz vernarrt war in diese Lichtgestalt inmitten der sonst so traurig einsamen Bierseligkeit.
In dieser von Ulrich Noethen, Martin Feifel und Jürgen Tonkel wunderbar gespielten Szene aus „Kommissar Süden und das Geheimnis der Königin“ kristallisiert sich vieles von dem, was die beiden Neuen im ZDF anders machen als die Ermittler, die vor ihnen an den zahllosen TV-Tatorten ihre Marken hinterlassen haben. „Es muss nicht immer Mord sein“, lautet die Devise. Tabor Süden, Martin Heuer & Co suchen nach Vermissten. Wer plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist, muss nicht unbedingt entführt oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein.
Foto: ZDF
„Es kann auch ein Aufbruch in ein neues, womöglich besseres Leben sein“, sagt ZDF-Redakteurin Caroline von Senden. „Hinter jeder Vermissung stecken eine Geschichte oder ein Schicksal, die sich erst einmal den Blicken zu entziehen suchen“, so Noethen. Die Spannung der nach den Romanen von Friedrich Ani entstandenen Filme zielt also bereits konzeptionell ins menschlich Tiefgründige, möglicherweise auch ins Gesellschaftskritische, kreist um Lebensentwürfe und tiefe Wunden. „Die Vermissten sind oft glücklicher als die, von denen sie vermisst werden“, so Dominik Graf, der beim zweiten Film der Reihe, „Kommissar Süden und der Luftgitarrist“, Regie führte.
Kritik: „Kommissar Süden und das Geheimnis der Königin“
„Menschenversteher“ nennen ihn die Kollegen. Der Mann von der Vermisstenstelle der Kripo München will tatsächlich alles verstehen – was ihm im Auftaktfall einen heftigen Disput mit seinem Vorgesetzten einbrachte. Verstehen um jeden Preis. So wollte er auch verstehen, was das für eine Beziehung war, welche die von allen verehrte Schönheit Soraya mit ihrem Vater hatte. War es schnöder Missbrauch, Vergewaltigung oder könnte es nicht doch Liebe gewesen sein? Süden versagt sich ein schnelles Urteil. Liebe bedeutet ihm mehr als die Regeln der Gesellschaft. Am Ende hat er sich geirrt – und er kann es zugeben. Martin Enlen ist ein aufs Wesentliche konzentrierter Film gelungen, der seine Atmosphäre nicht nur aus den Bildern gewann, sondern vor allem aus dichten Situationsbeschreibungen. Buch und Regie nahmen sich Zeit, verweilten bei den Figuren und zeichneten markante Menschenbilder, insbesondere von den außergewöhnlichen Beamten. Große Schauspieler. Ein idealer Einstieg. tit.
In der Szene in der Münchner Traditionskneipe vermitteln sich vor allem Standpunkte. Süden sitzt etwas abseits, schaltet sich seltener ein, bleibt auf Distanz zu Wolfi, dem Heuers mächtiger Zug beim Biertrinken imponiert. Dass Heuer ein massives Alkoholproblem hat, während der Kollege eher eigenbrötlerisch veranlagt ist, wird hier leise angedeutet. Was die beiden vom Vermisstendezernat allerdings am meisten von ihren TV-Kollegen unterscheidet, ist die Art und Weise, wie sie mit den Befragten umgehen. Man muss sich nur vorstellen, wie Bella Block einem Alkoholiker wie jenem Wolfi begegnen würde.
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„Süden ist einer, der den Leuten alles zutraut, ihnen aber auch alles verzeiht, nie verurteilt“, sagt die ZDF-Redakteurin Caroline von Senden. Sein Langmut hängt mit seiner eigenen Geschichte zusammen. „Mein Name ist Tabor Süden. Ich arbeite als Kommissar auf der Vermisstenstelle der Kripo in München und kann meinen eigenen Vater nicht finden“, so stellt sich der traurige Held vor. Als er noch ein Kind war, verschwand sein Vater von einem auf den anderen Tag. Ein Abschiedsbrief klärte nur, dass er aus eigenem Antrieb die Familie verließ.
Diese Last trägt Süden fast 40 Jahre mit sich herum. Sie ist der Schlüssel zu seinem Einfühlungsvermögen. Im zweiten Film der Reihe, in dem Graf eine „Weltstadt mit Herz“ im Delirium zeigt, gibt es eine Szene, die die Mentalitätsunterschiede der drei von der Such-Stelle (zu Süden und Heuer gesellt sich noch die aparte Kollegin Sonja Feyerabend) deutlich macht. In einer Rückblende sieht man, wie es auf der Vermisstenstelle im Januar 2005 zuging, als ein Tsunami die Küstenregionen von Thailand bis Indonesien heimsuchte und viele Angehörige von Urlaubern, Klarheit über das Schicksal ihrer Liebsten haben wollten. 90 Sekunden dauert diese meisterlich geschriebene und inszenierte Szene: Heuer ist am Ende, er kann die verzweifelten Anrufer nicht mehr ertragen. Süden nimmt daraufhin den Hörer: „Ich möchte, dass Sie mir ein bisschen von Ihrer Frau erzählen“, sagt er ruhig. Er schaut sich ein Foto an. „Mir ist aufgefallen, dass der Ohranhänger Ihrer Frau eine ganz besondere Form hat…“ Süden findet den richtigen Ton. Während um in herum, die Welt im Chaos zu versinken scheint, nimmt er sich dem Einzelnen an, spendet Trost, indem er einfach nur zuhört. Eine seltene Gabe.