Die Frau ist völlig aufgelöst. Sie wischt die Tränen aus ihrem Gesicht, sie friert in ihrem Sommerkleid, wirkt verzweifelt. „Mein Leben ist vorbei“, dieses dramatische Fazit ihrer Existenz, schleudert sie wie ein Signal dem Mann entgegen, der ihren fahrigen Gesten und beängstigenden Worten mit Gleichmut gefolgt ist. Und plötzlich kommt die attraktive Frau dem Mann mit einer seltsamen Frage: „Sehe ich gut aus, wenn ich traurig bin?“
Die beschriebene Szene stammt aus der Eingangsfolge der US-Serie „In Treatment – Der Therapeut“. 25 Minuten Rede/Gegenrede, Monologe, Spielchen. Die junge Frau heißt Laura und ist seit einem Jahr Klientin in der Praxis des Psychotherapeuten Paul Weston. Sie berichtet in ihrer frühmorgendlichen Therapiesitzung von der letzten Nacht: vom Trennungsgespräch mit ihrem Lebensgefährten und vom Sex in der Toilette eines Clubs. Was sie eigentlich sagen will: Sie begehrt ihren Seelenarzt.
Die preisgekrönte Serie des amerikanischen Pay-TV-Senders HBO, auf dessen Konto auch „Die Sopranos“, „Six feet under“ oder „Sex and the City“ gehen, präsentiert sich dem Zuschauer in einer ungewohnten Form: die knapp halbstündigen Einakter sind intime Kammerspiele ohne inszenatorischen Firlefanz, ohne Action, ohne Außenaufnahmen. Dafür geht die Kamera oft nah an die Gesichter, damit der Zuschauer mutmaßen kann, was sich wohl hinter den Gesichtern abspielen mag. Jede Episode beginnt mit dem Kommen und endet mit dem Gehen des Patienten. Dazwischen pures Drama.
Der Therapeut beim Supervisor
Der in Hollywood zu Ehren gekommene Ire Gabriel Byrne („Die üblichen Verdächtigen“) spielt Paul Weston. Er ist der männliche Ruhepol nicht nur in den Szenen mit der sich in eine so genannte „erotische Übertragung“ verstrickten Patientin Laura. Auch in der ersten Therapiesitzung mit dem schwarzen Obermacho Alex, einem Bomberpiloten, der bei einem Einsatz im Irak 16 Kinder tötete, und mit Sophie, einer Turnerin im Teenageralter, die nach einem selbst verschuldeten Unfall beweisen muss, dass sie keine verkappte Selbstmörderin ist, gibt er sich souverän und aufgeräumt. Mit dem richtigen Satz im richtigen Moment weiß er Problemsituationen zu entspannen. Deutlich an seine Grenzen stößt er nur in der Stunde, in der er ein zerstrittenes Ehepaar zu besänftigen hat. Am nächsten Tag sitzt Paul der Psychologin Gina gegenüber. Sie ist bereits im Ruhestand. Vor Jahren hat er seine zweite Midlife-Krise mit ihr bearbeitet. Jetzt steckt er massiv in seiner dritten. Diese jeweils fünfte Supervisor-Folge ist ein perfekter dramaturgischer Kniff: auf einmal wird der stoische Zuhörer selbst zum Redner, zum Klagenden, zum Verunsicherten, der mit den Schicksalen der Anderen nicht locker umgehen kann, da ihm ähnliche Themen auf der Seele liegen.
„In Treatment – Der Therapeut“ ist eine sehr gut gemachte Serie. Reduktion und Konzentration sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit auf Zwischenmenschlichem liegt, auf Mienenspiel und Gestik, auf Worten und Betonungen. Da lässt sich nichts unter den Teppich kehren. Das Interesse an den Geschichten wächst mit der komplexer werdenden Beziehungsstruktur. Bald übernimmt sie die Regie. Und bald interessieren nicht mehr bloß die psychologischen Probleme, sondern die Dynamik zwischen den Protagonisten, die Verhaltensmuster, die Handlungsmotive.
Die Angst vor Depressionen
„In Treatment“ ist eine mutige Serie. Kein deutscher Produzent, weder ARD, ZDF oder Arte würden ein solches Projekt hierzulande wagen. Das liegt auch an der Abneigung der Deutschen gegenüber jenen Seelenklempnern, die es so gar nicht mit den geliebten naturwissenschaftlichen Fakten haben. In der amerikanischen Mittelschicht indes gehören Psychotherapie und Psychoanalyse seit Jahrzehnten zum guten Ton. „Wir haben offensichtlich Angst davor, von seelischen Krankheiten angesteckt zu werden“, so Edgar Selge, der große deutsche Schauspieler der kleinen Neurosen, „wenn wir wissen, jemand ist depressiv, dann werden wir seine Nähe meiden, weil wir Angst haben, dass die Depression auf uns überspringt.“
So ähnlich erklärt er sich auch die Erfolglosigkeit psychologischer Stoffe im deutschen Fernsehen. Sein einarmiger Kommissar Tauber, war einer der wenigen Reihen-Protagonisten die einigermaßen erfolgreich die Psychokarte spielten. Alle anderen sind gescheitert: kein einziger der Polizeipsychologen, die kurz nach Fitz den Dienst antraten, konnten reüssieren – ob sie von Leslie Malton, Martina Gedeck oder Gaby Dohm gespielt wurden. Ende der 2000er Jahre sah es nicht besser aus: Christian Ulmens „Dr. Psycho“ hatte das Krimigenre austherapiert und auch „Flemming“ mit seinen erotisch aufgeladenen Taschenspielertricks hatte keine Chance gegen die klassischen Ermittler.
Noch schwerer haben es die Nicht-Polizeipsychologen. „Helen, Fred und Ted“ konnten trotz Christian Berkel, Andrea Sawatzki und Friedrich von Thun mit ihrer psychologischen Gemeinschaftspraxis nicht in Serie gehen. Die Seele ist kein Organ, der Psychologe kein Halbgott hinter der Couch. „Kein Wunder, dass das Fernsehen die Psychologen noch nicht entdeckt hat“, erkennt Autorin und Produzentin Gabriela Sperl. „Denn das Fernsehen lebt von der Sicherheit, dass alles gut wird, dass das Kaputte wieder heil zu machen ist.“
Die Deutschen lieben nur „Bloch“
Diese Erkenntnis mag Maximilian Bloch, der einzige TV-Psychologe, dem der Fernsehzuschauer Vertrauen schenkt, nur ein Stück weit bedienen. Auch wenn Blochs Fälle im Gewand eines psychologischen Rätsels daherkommen, so bleibt doch die filmische Lösung mit dem Bewusstsein um die Fragilität der Seele behaftet. „Die wirkliche Therapie beginnt erst nach dem Film“, betont Hauptdarsteller Dieter Pfaff. „Bloch zeigt dem Patienten eine Perspektive, nicht mehr. Eine Therapie indes besteht aus sehr viel Arbeit und sie dauert lange.“ Im Falle der 1. Staffel von „In Treatment“ 42 Folgen und fast 20 Filmstunden.