Eine Kamerafahrt durch Baumwipfel im düsteren Teil der Dämmerung, eine Allee im Nebel, ein Autofahrer mit unbewegter Miene, dann eine Überblende in eine verlassene Schule – so beginnt die zweite „Stunde des Bösen“ mit dem martialisch anmutenden Titel „In der Überzahl“. Martialisch jedoch geht es in diesem Thriller von Carsten Ludwig nicht zu. Die große Ruhe der Eingangssequenz ebnet den Weg zu einem Thriller ohne Action. Der Mann im Auto ist Stig (Ulrich Thomsen), ein Däne auf der Rückfahrt in die Heimat, dem ein jugendlicher Mitfahrer (Max Mauff) einen Strich durch die Rechnung macht. Plötzlich ist der junge Mann da, reißt die Hintertür des Autos auf, steigt ein und hält Stig eine Waffe an den Kopf. „Fahr los!“ herrscht der Unbekannte ihn an und Stig gehorcht.
„In der Überzahl“ spielt seine 67 Minuten fast ausschließlich im erwähnten Auto und beschränkt sich weitgehend auf zwei Personen, den Fahrer und den bewaffneten Jugendlichen, der sich schließlich als Michael vorstellt. Die Perspektive ist die des bedrohten Fahrers. Die Kamera ruht über lange Strecken auf seinem Gesicht, während der Zuschauer ebenso wie Stig Michaels Antlitz nur erahnen kann. Carsten Ludwig versteckt seinen Täter im Rückspiegel und in Unschärfe, zeigt nur Anschnitte seines Profils oder den Hinterkopf. Michael bleibt lange eine anonyme und rätselhafte Bedrohung. In dieser Aufstellung ist Stig im Grunde die einzige Figur, zu der der Zuschauer eine Beziehung aufbauen kann. „In der Überzahl“ stellt sich im ersten Akt nahezu als Ein-Personen-Stück dar, das es äußerst schwer hat, die Zuschauer für sich zu gewinnen. In der Enge des Autos und unter der Voraussetzung, eine der beiden Figuren in der Unschärfe zu belassen, verfügt die Kamera über außergewöhnlich wenig Spielraum. So beschränkt sich Kameramann Stefan Ciupek auf wenig abwechslungsreiche, dafür lange Einstellungen, die stets Stig in den Fokus nehmen, Landschaft und Rückbank jedoch zu einem verschwommenen Einerlei verblassen lassen.
Foto: ZDF / Stefan Ciupek
Leider entsteht aus der räumlichen Begrenzung des Konzepts keine atmosphärische Dichte. Schon die Musik der Eingangssequenz lässt sich eher meditativ als bedrohlich an. Ruhe ist hier die Devise, doch aus dieser Ruhe erwächst keine Kraft. Es wirkt fast wie Ironie, wenn Michael seinem Opfer von seiner Lieblingsfilmmusik berichtet, die ihm die Gefühlswelt des Helden erschließe. Selbiges lässt sich von Dirk Dresselhaus Score nicht sagen. Es ist jedoch auch der emotional eher reduzierten Hauptfigur Stig zuzuschreiben, dass dem Zuschauer die Introspektion besonders schwer fällt. Trotz der Lebensbedrohung durch den bewaffneten Mitfahrer und die Bewusstwerdung, es mit einem Amokläufer, einem Massenmörder zu tun zu haben, behält der Fahrer bis kurz vor Ende die Fassung. Der Zuschauer hingegen kann in Anbetracht dieser Regungslosigkeit nur mit Fassungslosigkeit oder zumindest Unverständnis reagieren. Dass Michael ebenfalls ein Rätsel bleibt, ist wiederum für das Konzept des Films fundamental. Carsten Ludwig will nicht erklären, vielleicht nicht einmal beschreiben, sondern Fragen stellen und fehlende Antworten aufzeigen. Was den jungen Mann antreibt, kann das Publikum nur erahnen. Dabei gibt ihm Ludwig durchaus Ideen an die Hand.
Das Rätsel um den bewaffneten Mann auf der Rückbank ist im Grunde der alleinige narrative Motor des Fernsehspiels. Der Zuschauer soll um den sympathischen Fahrer bangen, er soll sich über die Absichten und Motivation des Jugendlichen den Kopf zerbrechen und er soll darin ultimativ enttäuscht werden. Zu wenig für ein Thrillerkonzept. „In der Überzahl“ entwickelt keine Spannung, keinen „Thrill“, der die für dieses Genre notwendige Angst oder Beklemmung produzieren könnte. Die gemeinsame Autofahrt der beiden Männer gestaltet sich über zwei Drittel der Laufzeit geradezu langweilig. Triviale und klischeebeladene Dialoge über Videospieladaptionen und den musikalischen Generationenkonflikt Elektro vs. Klassik können schwerlich mitreißen. Erst als Stig die Fassung verliert, entwickelt „In der Überzahl“ endlich die langersehnte Kraft. Wunderschön gefilmt in geheimnisvollen Spiegelungen begleitet der Zuschauer nun überraschend Michael bei einer emotionalen Reise in seine Vergangenheit.
Dies ist der dramaturgische Höhepunkt der Erzählung. Der erwartete gewalttätige Klimax fällt aus. Was übrig bleibt, ist schließlich weniger Frust über einen zu ruhig erzählten Genre-Film, sondern eine beunruhigende Ratlosigkeit über das Gesehene. Und vermutlich hatte Autor-Regisseur Carsten Ludwig genau das im Sinn. (Text-Stand: 26.2.2014)