Architekt Carsten Spanger (Justus von Dohnányi) genießt den Augenblick: Er küsst die Frau, die er im Sessel gefesselt hat, auf die Stirn, öffnet den Gürtel ihrer Hose, dreht die Musik lauter, flößt ihr gegen ihren Willen Champagner ein, während im Hintergrund die schöne Tenor-Stimme von Cyrille Dubois mit einem Lied aus der Bizet-Oper „Die Perlenfischer“ zu hören ist. Spanger hat sein Opfer in gewisser Weise auch gefischt, hat die vom strömenden Regen durchnässte Frau aufgegabelt und ihr vermutlich freundlich und charmant Hilfe angeboten. Aber als sein Opfer nun fleht: „Ich will jetzt wirklich nach Hause, bitte“, bringt Spanger sie mit einem Streifen Klebeband zum Verstummen. Ein wohlhabender, kultivierter Übeltäter, der klassische Musik mag und eine Villa mit Pool bewohnt. Regisseur Till Endemann und die Kamera von Lars Liebold zelebrieren (nicht nur) diese ersten Einstellungen geradezu und fixen ihr Publikum voyeuristisch an, doch zur Tat kommt es nicht. Ein junger Mann hat sich Zutritt zur Villa verschafft, schlägt den Bösewicht nieder und sperrt ihn in einem Raum hinter Glaswänden ein. Spanger haut mehrfach wütend gegen das Glas, bis es springt. Die Kamera zoomt nahe an sein Gesicht. Der Mann ist außer sich, faucht wie ein wildes Tier. Etwas zu offenkundig wird dem Publikum hier ein Monster präsentiert.
Spannung geht vor Tiefgang und manchmal auch vor Präzision
Doch die Faszination kehrt dank einer ungewöhnlichen Dramaturgie schnell wieder zurück. Die Handlung springt drei Monate weiter. Spanger steht vor Gericht und wird vom Gutachter (Johannes Silberschneider) für schuldunfähig erklärt. Allerdings wird danach noch Karla Eckhardt (Julia Koschitz) in den Zeugenstand gerufen. Die Psychologin war zuerst beauftragt worden, die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten zu begutachten, doch der Auftrag war ihr wieder entzogen worden. Warum dies geschehen ist und was zwischen Tat und Prozess über Spanger in Erfahrung gebracht wurde, erzählt der Film nun wieder im Rückblick. Dem Genre ist geschuldet, dass hier nicht alles strikt nach Strafprozessordnung, Genauigkeit in Sachen psychologischer Diagnose oder auch bestechender Glaubwürdigkeit abläuft. Wenn zum Beispiel Eckhardt das sichtlich mitgenommene Opfer und ihren ehemaligen Freund befragt, findet das im Stehen auf einem belebten Krankenhaus-Flur statt. Ein kurzes Video, das Spanger als Kind gedreht hat und seine Schauspieler-Mutter zeigt, genügt, damit die bis dahin noch unsichere Psychologin eine umfangreiche Diagnose erstellt. Spannung geht vor Tiefgang und manchmal auch vor Präzision. Außerdem sind manche Nebenfiguren eher holzschnittartige Fassungen: Die strenge Anwältin (Michou Friesz), die Eckhardt sofort unter Druck setzt, oder der Macho-Kommissar (Johannes Zeiler), der gern im unpassenden Moment hereinplatzt und seine junge Kollegin (Marie-Christine Friedrich) anpflaumt, sind die üblichen Stolpersteine, die den Kampf der Protagonistin nur um so tapferer erscheinen lassen sollen.
Alleinstehende Chefin ohne „love interest“ und ein kommunikativer Praktikant
Die pure Einzelkämpferin ist Eckhardt aber nicht. Das Drehbuch von Rebekka Reuber und Marie-Therese Thill stellt ihr einen „Praktikanten“ an die Seite, den anfangs übereifrigen, schließlich überaus hilfreichen Niklas Teubert (Aaron Friesz). Dass Frauen Chefinnen sind und jüngere, männliche Zuarbeiter haben, gibt es im Fernsehen nicht allzu oft, etwa in den ARD-Reihen „Die Füchsin“ und „Die Diplomatin“ oder bei der ZDF-Krimireihe „Kommissarin Lucas“ (wobei der Altersunterschied in den genannten Beispielen deutlich größer ist). Hier werden herkömmliche Rollenbilder außerdem so weit aufgebrochen, dass der aufmerksame Niklas mehr Kompetenzen in Sachen zwischenmenschlicher Kommunikation zu haben scheint als seine Chefin, die zwar viel Empathie für die von ihr in der geschlossenen Anstalt betreuten Menschen aufbringt, sonst aber abweisend und wortkarg bleibt. Außerdem lebt Eckhardt allein, übernimmt also weder die üblichen Rollen Ehefrau, Freundin oder Mutter, noch gibt es irgend ein Anzeichen von „love interest“. Und da das Ganze ebenfalls in Wien spielt, drängt sich der Vergleich zur „Spuren des Bösen“-Reihe um den einsamen, von Heino Ferch gespielten Kriminalpsychologen Richard Brock auf.
Aufregende Duelle zwischen von Dohnányi und Koschitz
Hier wie dort geht es mehr um die Motive hinter der Tat als um eine klassische Krimi-Ermittlung. Auch dank der außergewöhnlichen Bildgestaltung sind viele Szenen geradezu physisch intensiv: Die Prunkstücke bei „Im Schatten der Angst“ sind die aufregenden, kammerspielartigen Duelle von Koschitz und von Dohnányi, bei denen es nicht nur auf die Dialoge, sondern auf Körperhaltung, jede Bewegung und jede Geste ankommt. Als Zuschauer zittert man förmlich – angesichts der von Dohnányi mit sparsamen Mitteln, aber umso eindringlicher gespielten Bedrohlichkeit Spangers – um die Psychologin und fragt sich vor allem, wieso sie diese Nähe zu ihrem „Patienten“ zulässt. Doch die verschiedenen Strategien und Wendungen in dem Psycho-Machtspiel gehen am Ende auf, nicht in einem „realistischen“ Sinn, aber im Sinn einer inneren Logik. Passend dazu hat Regisseur Till Endemann die ersten Begegnungen in einem surreal wirkenden Raum inszeniert. Die Kamera von Lars Liebold sorgt hier, in der geschlossenen Anstalt, in die der Architekt nach seiner Verhaftung gebracht wird, für einen besonderen Effekt. Das Auge ist irritiert von diesem niedrigen, tiefen, weitgehend leeren, fensterlosen Raum mit einigen Vorsprüngen und Sitzgelegenheiten, in dem die Perspektiven nicht zu stimmen scheinen. Außerdem ist er komplett rosa gestrichen, weil die Farbe auf die Insassen beruhigend wirken soll – was den Eindruck verstärkt, dass Spanger und Eckhardt sich in einer eigenen Welt begegnen, in die kein Dritter Zutritt hat.
Die Gutachterin öffnet sich gegenüber dem Täter, um zur Wahrheit vorzudringen
Damit wird gewissermaßen auch visuell der Weg gewiesen für den Clou dieses Psycho-Thrillers, der zwar nicht sehr neu ist (und natürlich nicht ganz so mitreißend erzählt wie in „Das Schweigen der Lämmer“), der aber auch hier funktioniert: Die Gutachterin muss professionelle Grenzen überschreiten, muss sich dem möglichen Serienmörder öffnen und ein Stück weit preisgeben, um zur Wahrheit vorzudringen. Logischerweise bedarf es deshalb auch Verletzungen oder Traumata im Leben der Protagonistin, die im Dunkeln Panikattacken erleidet, weil sie in ihrer Kindheit in die Kammer gesperrt wurde. Nicht überraschend ist, weil im Fernsehen schon oft gesehen, dass sich dann auch noch Parallelen zu den traumatischen Erfahrungen Spangers auftun, kurz gesagt: Mangelnde Mutterliebe ist schuld – bei vollständiger Abwesenheit der Väter. Ein psychologischer Klassiker, nicht sehr originell, dennoch bleiben die Hauptfiguren ein Stück weit überraschend und rätselhaft. Vor allem aber: An Spannung mangelt es bis zum Ende nicht. (Text-Stand: 20.2.2020)