Anna Lobrecht (Mercedes Müller) stellt sich der Polizei, nachdem der Psychologe Christoph Schäfler (Christoph von Friedl) am Ufer der Donau erschlagen worden war. Aber ist sie tatsächlich seine Mörderin, wie die junge Frau behauptet? Kommissarin Irene Radek (Susi Stach) bittet die forensische Psychiaterin Karla Eckhard (Julia Koschitz) um eine persönliche Einschätzung, denn Eckhard hatte in einem psychologischen Gutachten bei Lobrecht „Pseudologia Phantastica“ diagnostiziert. Weil sie als Kind gezwungen worden sei, ihren Vater, einen katholischen Priester, zu verleugnen, habe sie sich zu einer krankhaften Lügnerin entwickelt. „Pseudologen“ hätten eine Neigung zu selbstverletzendem Verhalten, seien aber in der Regel zurechnungsfähig, erklärt Eckhard der Kommissarin. Das Gutachten war bestellt worden, weil Lobrecht ihren ehemaligen Therapeuten Schäfler eines sexuellen Übergriffs beschuldigt hatte. Radek zweifelt an Eckhards Diagnose, die sich allerdings zu bestätigen scheint, als Lobrecht im Verhörraum ein Glas zerschlägt und sich den Arm aufschlitzt.
„Du sollst nicht lügen“ ist der zweite Film mit Julia Koschitz als psychologische Gutachterin und erreicht nicht ganz die Intensität der im März 2020 erstmals ausgestrahlten Auftakt-Episode mit Justus von Dohnányi als Serienkiller. Sicher auch, weil Eckhards Gegenspielerin diesmal nicht so bedrohlich erscheint, wobei es Mercedes Müller sogar im geblümten Kleid versteht, eine etwas unheimliche Aura zu verströmen. Das kammerspielartige Psycho-Duell im rosa gestrichenen Raum zwischen Gutachterin und der psychisch kranken Verdächtigen kommt allerdings weniger häufig zum Einsatz, was durchaus bedauerlich ist. Und durch das Zusammenspiel von Kommissarin und Gutachterin, die teilweise gemeinsam ermitteln, nähert sich das Format einer gängigen Krimi-Dramaturgie an. Aber Susi Stach und der trockene Humor der herrlich bärbeißigen Kommissarin sind gleichzeitig eine neue, typisch österreichische Attraktion. Die Zahl der Nebenfiguren zu reduzieren, erweist sich ohnehin als positiv. Insgesamt wirkt der zweite Film gestraffter und in der psychologischen Konstruktion auch etwas glaubwürdiger.
Kurze Flashbacks in die Kindheit erzählen von Anna Lobrechts Vorgeschichte und zeigen die psychisch Kranke nicht als Täterin, sondern als Opfer. Zudem spielt Mercedes Müller – wie von Dohnányi im ersten Film – keine Klischee-„Verrückte“. Lobrecht agiert bis auf die unverhoffte Selbstverletzung konzentriert und kontrolliert. Ohnehin scheint Eckhard verletzlicher und angeschlagener zu sein als ihre Patientin; die Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“ verwischen. Das eigene Trauma der Psychiaterin, die als Kind häufig in eine dunkle Kammer gesperrt worden war und im ersten Fall unter Panikattacken litt, wird nun nicht weiter thematisiert, auch wenn Eckhards Mutter Ursula (Patricia Hirschbichler) einen kurzen Auftritt hat. Julia Koschitz sorgt aber mit ihrem Spiel und ihrer Körperhaltung für Kontinuität: mit betont leisem Auftreten, den ängstlich hoch gezogenen Schultern, dem gesenkten Kopf und der gesenkten Stimme. Die Freundschaft mit dem Pianisten Peter Sandor (Michele Cuciuffo) verheißt ein mögliches Aufblühen der einsamen Psychiaterin, doch eine Liebesgeschichte wird nicht daraus, weil Sandor schmerzlich in den Fall verwickelt wird.
Eckhard will die erneute Begutachtung Lobrechts eigentlich nicht übernehmen, aber der Fall hat ihr Interesse verständlicherweise geweckt. Zudem macht ihr die junge Frau Vorwürfe, als Eckhard sie in der Psychiatrie aufsucht. Eckhard habe nicht geglaubt, was Schäfler ihr angetan habe, sagt Lobrecht. Möglich, dass die Tatverdächtige auf eine Abrechnung aus ist, denn sie lehnt anschließend Eckhards Chef Lorenz Lodenscheidt (Johannes Silberschneider) als Gutachter ab und will nur noch mit Eckhard selbst sprechen. Gemeinsam mit der Kommissarin befragt die Psychiaterin Lobrechts Mutter Margarete (Johanna Orsini), die ihrer Tochter ein Alibi für die Tatzeit verschafft. Allerdings ist es seltsam, dass der Mord an Schäfler exakt an dem Todestag von Annas Vater begangen wurde: Der Pfarrer war bei einem Brand in der Kirche ums Leben gekommen. Eine spannende Wendung bekommt der Fall mit einem weiteren Verdächtigen. Das Mobiltelefon von Martin Heller (Thomas Schubert), einem ehemaligen Krankenpfleger, der Anna Lobrecht in der Psychiatrie kennenlernte, war in der Nähe des Tatorts eingeloggt. Er hatte seinen Job verloren, weil er Anna gegen einen übergriffigen Kollegen schlagkräftig verteidigt hatte. Jetzt arbeitet er als Paketbote und wohnt bei seiner Schwester. Als Kommissarin Radek vor deren Tür steht, sucht er das Weite.
Fazit: Den Drehbuchautor Paul Salisbury und Regisseur & Koautor Till Endemann gelingt ein unterhaltsames, atmosphärisch inszeniertes Psycho-Spiel um Lüge und Wahrheit mit drei interessanten weiblichen Hauptfiguren. Allerdings scheint sich die Reihe mit dem zweiten Film den gängigen Krimi-Formaten anzunähern. Jedenfalls lässt das die klassische Polizei-Ermittlung einschließlich eines typischen, auf vordergründige Spannung ausgerichteten Showdowns am Ende vermuten. Der Ausbau zu einer lockeren Reihe, die für ORF wie ZDF offenbar die Lücke schließen soll, die Martin Ambroschs und Andreas Prochaskas „Spuren des Bösen“ hinterließ, könnte dennoch ein Gewinn für die Krimilandschaft hierzulande sein. Eine Voraussetzung wäre dafür allerdings: mehr von jener Wiener Ausnahme-Reihe mit Heino Ferch und weniger Ermittlerkrimi-Routine. (Text-Stand: 22.3.2023)