Wie ein gejagtes Tier hetzt die junge Akua (Precious Mariam Sanusi) durch nächtliche Weinberge. Sie rennt, lauscht, duckt sich vor Schüssen. Am Ende wird sie auf der Straße beinahe überfahren. Kurz darauf folgt die Kamera einem Mann in feinem Zwirn. Er hat keine Eile. Winzer Matteo deCanin (Tobias Moretti) inspiziert die Anlagen seines Weinguts. Ein Zuruf hier, eine vertraute Bemerkung dort, am Ende ein knappes Lob für den ausgezeichneten Pinot. Ein Mann auf sicherem Terrain. Ein König, der seine Gemarkung vermisst. Alles in bester Ordnung. Der Zuschauer weiß: Das trügt. Draußen am Weinberg hat ein Mann Matteo durch ein Fernglas beobachtet. Dieser Mann wird kommen. Er wird immer näherkommen und Matteo drohen. Das kann er, weil niemand hier um die Vergangenheit des erfolgreichen Winzers weiß. Aber das ändert sich jetzt. Schon nach der ersten, stummen Begegnung zwischen dem Fremden und Matteo registrieren dessen Frau (Ursina Lardi) und Tochter (Antonia Moretti) die Veränderung an ihm. Aus weiterer Ferne nähert sich derweil der instinktsichere Carabiniere Adrin Erlacher (Harald Windisch). Er untersucht den Anschlag auf die Nigerianerin Akua und weiß bald, wer der Mann mit dem Fernglas ist. Er heißt Nino Sorrentino, ist Mitglied der Camorra und hat mindestens 18 Morde auf dem Gewissen.
Foto: ZDF / Marin Rattini
„Es ist kein Film der Sprache, sondern der Gesichter“, sagte Tobias Moretti 2013 über „Das finstere Tal“. In ihrer jüngsten Zusammenarbeit bleiben Moretti, Regisseur Andrea Prochaska und Kameramann Thomas Kiennast („3 Tage in Quiberon“, 2016) dieser Devise treu. Neben Vater und Tochter Moretti komplettiert Ursina Lardi die Familie DeCanin. In ihren Rollen begegnen sich die Drei auf Augenhöhe. Die Geschäfte führt das Trio als perfekt eingespieltes Team. Wie man das Risotto mag, ist in drei Worten gesagt, gegenseitige Zuneigung drückt sich in Gesten aus, und wo man ewig streiten könnte, reicht hier ein Satz. Ein „kannst net klopfen?“ der Tochter oder ein „willst nur ablenken“ der Frau. Wunderbar spielen Lardi und Moretti das Spiel der stummen Gesichter im Gefasel einer Weinverkostung. Alles Gerede wird zur Kulisse, ein fragender Blick (Lardi) und ein halbgares Lächeln (Moretti) sprechen Bände. Auch Matteos Erpresser, der sich mit einer Gruppe junger Mafiosi auf dem Nachbargut des vermissten Winzers Pulo eingenistet hat, konzentriert sich auf das Wesentliche. Eine kurze Erinnerung, eine Drohung, eine Forderung. Auch das Familie, aber eine, deren „Vertrauensbeweise“ den Zuschauer am Ende des ersten Teils schaudern machen.
„Es ist eine Geschichte, die Elemente von Krimi, Thriller und Drama vereint. Dieser Mix ermöglichte mir als Regisseur mit den Mitteln des klassischen Genrefilms zu experimentieren und den Zuschauer mit auf eine Reise zu nehmen, in der die Schatten der Vergangenheit dramatische Auswirkungen auf das Ensemble komplexer Figuren in der Gegenwart haben. Das Spiel mit den Mythen und Klischees klassischer Mafiafilme hat einen besonderen Reiz, gleichzeitig ist die Geschichte im Kern ein Familiendrama.“ (Regisseur Andreas Prochaska)
Foto: ZDF / Martin Rattini
Inmitten seines bedrohten Glücks tritt Matteo DeCanin dann der Carabinieri Erlacher gegenüber. Harald Windisch spielt den Ermittler als leisen Solisten, der keine Kämpfe mehr ausficht, die er nicht gewinnen kann. Nachsichtig erträgt er seinen naiven Kollegen (Lukas Watzl), höflich schweigend schlägt er die Anweisungen seiner Vorgesetzten (Melika Foroutan) in den Wind. Windisch macht das toll. Bevor dieser Erlacher seine Fragen stellt, spricht er mit DeCanin über Wein. Dabei tragen die beiden die gleiche Hemdfarbe. Es spricht für den Film, dass man unmerklich beginnt, auf solche Details zu achten.
Die Details der Farben etwa. Alles Grün ist dunkel, Hauswände lichtgrau, davor karge Rosensträucher, deren nachkolorierte Blüten rote Tupfer in den Hintergrund setzen. Alles nicht so stark bearbeitet wie in Scorseses „Kap der Angst“, aber eben nicht natürlich. Warm wirkt nur der Weinkeller, in dem die Schätze der DeCanins zu klassischer Musik der ersten Güte entgegenreifen. Kühl und sauber erscheinen die Verkaufs- und Verköstigungsräume über diesem Keller. Hinter großen Glasfronten das matte Grün der Weinberge. Es sind Bilder, die man sich auf die Kinoleinwand wünscht. Auch Morettis zunehmend versteinertes Gesicht. Eine holzschnittartige Maske, hinter der ein Mensch verzweifelt nach dem Ausweg sucht. Die Dramaturgie rennt nie, die Erzählung lässt sich Zeit. Es dauert, bis Matteo seiner Frau die Verbrechen der Vergangenheit beichtet. Einsam entscheidet er sich für den riskantesten Ausweg, der in einem Showdown mit Western-Anmutung münden wird. Musikalisch erhöht ein klopfender Rhythmus stetig den Druck, dazu legen tiefe Streicher einen Teppich aus, der in seiner Webart an Coppolas Dracula-Version aus dem Jahr 1992 erinnert. Dennoch bleibt die Musik im Hintergrund, in den dramatischsten Szenen setzt sie sogar ganz aus.
„Im Netz der Mafia“ ist kein schneller oder verstörend brutaler Mafiathriller. Es ist das Drama eines Menschen, der gedacht hat, er könne einfach so neu anfangen. Ein Schuld-und Sühne-Stück, in dem sich am Ende jeder fragen muss, ob er weiterleben kann wie bisher. Aus einem Südtirol ohne Brotzeit und Touristen. Allein das ist es wert. (Text-Stand: 10.8.2021)