Es ist ein Spiel, doch es wirkt nicht so: Ein Mann sucht im Wald nach seinem Sohn. Das Kind verbirgt sich unter einer Brücke, aber seinen Vater erinnert das Versteckspiel an eine alte Wunde, weshalb wie aus dem Nichts ein zweiter Junge auftaucht: Der achtjährige Ole ist vor 15 Jahren spurlos verschwunden. Damals hat David Wallat, Kommissar beim LKA Hannover, einen Kindermörder verhaftet. Joseph Maria Hagenow, bis dahin völlig unbescholten, hatte einen Jungen lebendig in einer Kiste im Wald verscharrt und verdursten lassen. Wallat war überzeugt, dass der Mann auch Ole auf dem Gewissen hat, aber das ließ sich nicht beweisen; die Leiche des Kindes ist nie gefunden worden. Als Hagenow aus dem Gefängnis entlassen wird, bekommt Wallat den Auftrag, ihn zu observieren. Der Kommissar soll den Mann, der nur wegen Totschlags verurteilt worden ist, auf frischer Tat ertappen, damit er für immer hinter Gittern verschwindet. Eines Nachts nutzt der überwachte Hagenow einen Moment der Unaufmerksamkeit und entwischt. Am nächsten Morgen ist der kleine Max verschwunden.
Das ist zwar purer Thrillerstoff, aber Regisseur Stefan Bühling verzichtet bei der Umsetzung von Arndt Stüwes Drehbuch zunächst auf die üblichen Spannungselemente, denn erst mal passiert nicht viel: Wallat und sein Team können nichts anderes tun, als zu warten. Das ist trotzdem fesselnd, weil Bühling die beiden Hauptrollen vortrefflich besetzt hat: Peter Kurth spielt den Kommissar, Tobias Moretti den Mörder. Der Reiz dieser Konstellation liegt nicht zuletzt im potenziellen Rollentausch: Beide Schauspieler könnten auch die andere Figur verkörpern. Der von Moretti durchaus sympathisch angelegte Hagenow hat wie jeder Mensch das Recht auf eine zweite Chance; deshalb hat Christoph Berkenbusch (Florian Stetter), der Pfarrer der kleinen niedersächsischen Ortschaft Lohegrund, ihn als Gast bei sich aufgenommen. Wallat sieht das anders. Für ihn gehören Männer wie Hagenow für immer weggesperrt. Der verschwundene Max ist der Sohn von Berkenbuschs Haushälterin (Odine Johne). Wallat zweifelt nicht eine Sekunde daran, dass der höfliche und scheinbar kooperative Hagenow auch dieses Kind lebendig begraben hat.
Ähnlich interessant wie der Entwurf der Antipoden ist das Personal in der zweiten Reihe: Vor 15 Jahren hat Wallats Partner Thuner (Simon Schwarz) verhindert, dass der Kollege illegale Mittel anwendet, um Hagenow dazu zu bringen, Oles Versteck zu verraten; damals endete die Freundschaft der beiden Polizisten. Nun ist Thuner erneut dabei, aber diesmal hat Wallat Verstärkung: Die junge Kommissarin Kampe (Tinka Fürst) tickt ähnlich wie der Teamchef. Die beiden entführen Hagenow in eine einsame Waldhütte, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Bühling zeigt die Folterszenen zwar nicht direkt, aber das macht die Szene nicht erträglicher: Während des simulierten Ertrinkens schwenkt die Kamera auf die zappelnden Füße des Mannes; später sind nur noch die entsprechenden Geräusche zu hören. Als wäre dieser Vorgang nicht schon ungeheuerlich genug, setzt der Film noch eins drauf: Als eine Hundertschaft den Wald auf der Suche nach Max durchkämmt, schaut der Einsatzleiter auch in die Hütte. Er erfasst die Situation mit einem Blick, lässt das Duo jedoch gewähren. Eine clevere Buchidee verstärkt die Empörung noch: Thuner hält es für einen Fehler, sich allein auf Hagenow zu konzentrieren, und tatsächlich präsentiert Stüwe gleich zu Beginn einen weiteren Verdächtigen (Jan Krauter), den die Polizei nicht auf dem Radar hat. Hagenow wiederum legt selbst unter der Folter kein Geständnis ab; womöglich, weil es nichts zu gestehen gibt.
Dass die Verantwortlichen das Krimidrama „Im Abgrund“ und nicht „Am Abgrund“ genannt haben, hat sicher auch damit zu tun, dass es bereits Dutzende Filme gibt, die so heißen; aber der Titel verdeutlicht eben auch, dass Wallat und Kampe eine rote Linie überschritten haben. „Wir sind anders als der“, beschwört Max’ Mutter den Lynchmob, der sich vor dem Pfarrhaus zusammengerottet hat. „Es gibt Grenzen, die machen uns zu Menschen“, sagt Thuner zu Wallat. Diesen Diskurs haben schon Jochen Bitzer (Buch) und Stephan Wagner (Regie) in ihrem Grimme-preisgekrönten Film „Der Fall Jakob von Metzler“ (2012) behandelt: Darf ein guter Zweck alle Mittel heiligen? Kampe spricht aus, was vielen Zuschauern durch den Kopf gehen wird: Der Staat schützt den Kindermörder, aber nicht die Kinder. Interessant auch, dass Stüwe gegen das Klischee eine attraktive junge Frau bis zum Äußersten gehen lässt. Tatsächlich hat Kampe bei der Wahl ihrer Mittel noch weniger Skrupel als Wallat; schade, dass Tinka Fürst, die als Hauptdarstellerin der Tragikomödie „Now or never“ als unheilbar kranke Frau noch eine echte Entdeckung war, bei ihren Dialogen nicht immer überzeugt.
Das ändert allerdings nichts an der Intensität des Films, zumal Bühlings Inszenierung ganz auf die Kraft der Geschichte vertraut. Der Tonfall ist fast sachlich; es sind die stets düsteren, unheilvollen frühwinterlichen Waldaufnahmen (Kamera: Marco Uggiano), die großes Unbehagen verbreiten. Anfangs, als sich Hagenow und Wallat gegenseitig belauern, lebt der Film in erster Linie von der Gewissheit, dass sich irgendwas ereignen wird; offen ist nur, was und wann. Später geht es vor allem um die Frage, ob Hagenow unschuldig oder doch ein Monster mit beängstigenden manipulativen Fähigkeiten ist. Reizvoll sind auch die kleinen Rätsel, die Stüwe beiläufig einstreut, etwa eine Postkarte an Wallat, auf der allein die Zahl 23 steht. Einmal gibt es sogar einen beinahe mystischen Moment, als Ole dem Kommissar den Weg zum versteckten Max zu weisen scheint. Gegen Ende lässt Bühling allerdings alle Zurückhaltung fahren; das Finale entspricht dem üblichen Thriller-Muster.
Das Langfilmdebüt des Regisseurs war das gut gespielte und ausgezeichnet fotografierte ZDF-Weihnachtsmärchen „Die weiße Schlange“ (2015). Nicht weniger kunstvoll war „Rübezahls Schatz“ (2017). Seine anschließenden Arbeiten – ein Pilcher Film („Wo dein Herz wohnt“, 2018) und zwei „Tonio & Julia“-Episoden (2019, alle ZDF) – schienen in erster Linie dem Broterwerb zu dienen. Künstlerisch bergauf ging’s mit dem Vater/Tochter-Melodram „Nur mit Dir zusammen“ (mit Vanessa Mai und Axel Prahl, 2020). Wie der Musikerfilm ist auch „Im Abgrund“ im Auftrag der ARD-Tochter Degeto entstanden; es spricht für das Gespür der Redaktion, dass sie dem Regisseur die für die Qualität des Krimis enorm wichtige Balance zwischen Drama, Thriller und Tragödie zutraute. Für Stüwe ist das Genre ähnlich ungewöhnlich. Der Autor hat zwar auch an der Amazon-Serie „You Are Wanted“ und dem historischen Sat-1-Krimi „Mordkommission Berlin 1“ mitgearbeitet, aber seine letzten alleinverantworteten Drehbücher waren die unterhaltsame Musikkomödie „Echte Bauern singen besser“ (2019) und die Romantic Comedy „Heiraten ist nichts für Feiglinge“ (2016).