Ich gehöre ihm

Anna Bachmann, Samy Abdel Fattah, Maria Simon, Durchschlag. Dealer des Herzens

Foto: WDR / Kai Schulz
Foto Rainer Tittelbach

„Ich gehöre ihm“ – drei Worte, die die Geschichte einer 15-Jährigen und ihrer ersten großen Liebe gnadenlos auf den Punkt bringen. Der Junge dem das naive Mädchen verfällt, ist ein  Loverboy. Er schleicht sich in ihr Leben, um sie später zur Prostitution zu zwingen. Ein schwerer Stoff, ein harter Film, der auf wahren Begebenheiten beruht. Gezeigt wird, wie das Mädchen „aus gutem Haus“ von seiner Familie & seinem sozialen Umfeld systematisch entfremdet wird. Der Film verdeutlicht die Mechanismen dieses Prozesses, der mit völliger Selbstaufgabe endet. Diese weitgehend aus der Opfer-Perspektive karg erzählte Tragödie ist trotz (oder vielleicht gerade wegen) des Verzichts auf jeglichen Voyeurismus oder Lolita-Touch mitunter schwer auszuhalten. Buch & Bildsprache arbeiten kongenial zusammen.

Die 15jährige Caro (Anna Bachmann) schwebt auf Wolke 7. Endlich schaut sie mal ein Junge an – und was für einer! Dieser Cem (Samy Abdel Fattah) ist richtig süß, schwärmt sie ihrer Freundin Lara (Vita Tepel) vor, „der ist anders, der denkt nicht nur an das eine“. Der junge Mann becirct sie mit seinen schönen Augen, er macht ihr laufend Komplimente, teure Geschenke – und schon bald hat er eine Wohnung für ihr beider lebenslanges Liebesglück gekauft. Was Caro nicht weiß: Cem ist ein Loverboy – mit seinem Tun verfolgt er einen perfiden Plan. Solche Jungmänner schleichen sich in das Leben von jungen, emotional unsicheren Mädchen ein, um sie später zur Prostitution zu zwingen. „Jetzt bist du ganz mein – für immer“, sagt der 19-Jährige, nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen haben. Er meint das wörtlich, im Sinne von „besitzen“. Und so fallen Minuten später seine Freunde über Caro her. Sie zieht sich daraufhin von Cem zurück, spricht aber mit niemandem über die Vorfälle. Die Eltern, Anna (Maria Simon) und Christian (Bernd Michael Lade), sind zwar prinzipiell offen für die Probleme ihrer beiden Töchter, aber sie sind vornehmlich beschäftigt mit der Sicherung ihrer Existenz. Stattdessen kann der Loverboy mit Entschuldigungen, Schwüren und romantischen Gesten das verstörte Mädchen wieder für sich gewinnen. Kleinlaut erzählt er ihr was von Schulden und von brutalen Gläubigern. Wenig später wird die Wohnung zum Bordell umfunktioniert, in dem Caro Cems Schulden angeblich abarbeitet.

Ich gehöre ihmFoto: WDR / Kai Schulz
Keine leichten Rollen für Samy Abdel Fattah und Debütantin Anna Bachmann. Wenn das Mädchen aufmuckt, setzt es Schläge. Für den Zuschauer ist das nicht leicht auszuhalten. Man steht mitunter etwas ungläubig vor dem Geschehen und fragt sich: So etwas soll es in Deutschland geben? Wie können die Mädchen so naiv sein?

„Ich gehöre ihm“ – drei Worte, die die Geschichte von Caro und Cem gnadenlos auf den Punkt bringen. Ein schwerer Stoff, ein harter Film, der auf wahren Begebenheiten beruht. „Die Zahl der angezeigten Fälle hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen, die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher“, heißt es im Abspann. In der Dokumentation „Verliebt, verführt, verkauft“, die das Erste im Anschluss an den WDR-Fernsehfilm zeigt, werden die Hintergründe beleuchtet; es wird ein Beispiel gegeben von einem Loverboy, der zwei junge Frauen zur Prostitution zwang und damit über eine Viertel Million Euro verdient hat. Weil der Non-Fiction-Beitrag soziale und psychologische Fakten nachreicht, kann sich der Spielfilm von Thomas Durchschlag nach dem Drehbuch von Angela Gilges und Ruth Olshan ganz auf die Loverboy-Dramaturgie, ihre zerstörerische Kraft und auf das psychische Abhängigkeitsverhältnis konzentrieren. Gezeigt wird, wie ein Mädchen „aus gutem Haus“ von seiner Familie & seinem sozialen Umfeld systematisch entfremdet wird. Der Film verdeutlicht die Mechanismen dieses Prozesses, der mit völliger Selbstaufgabe endet. Es ist kein Zufall, dass auch Alkohol und Drogen eine Rolle spielen bei dieser Inbesitznahme. Sie vernebeln die Sinne und machen das Verkaufen des Körpers erträglicher, verstärken aber gleichzeitig das Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz und festigen damit die Bindung zum „Besitzer“.

„Ehe sich Caro versieht, ist sie bereits abhängig von Cem. Er ist der Einzige, der sie versteht und dem sie noch alles erzählen kann. Der Einzige, vor dem sie sich nicht schämen muss.“ (Anna Bachmann)

„Loverboys suchen sich vor allem junge Mädchen, die mit ihrem Aussehen gar nicht mal besonders hervorstechen, die einfach Ausstrahlung haben, bei denen man aber auch sieht, das sie noch jung und naiv sind.“ (Samy Abdel Fattah)

„Zu spät erkennen Caros Eltern, dass sie zu gutgläubig gewesen sind und ihre Tochter zu verlieren drohen. Eine Situation, in die sich angesichts der Vielfalt der Gefährdungen für Jugendliche – wie Drogensucht, Spielsucht oder andere Abhängigkeiten – sicherlich viele Eltern hineinversetzen können.“ (Barbara Buhl, Leiterin der WDR-Programmgruppe Fernsehfilm & Kino)

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Endstation Straßenstrich? Gerade war Caro (Anna Bachmann) noch Mamas Kleine. „Ich gehöre ihm“ (ARD/WDR, 2017)

Der Zuschauer durchlebt den Höllentrip zunächst ganz aus der Sicht der Hauptfigur, also aus der Opfer-Perspektive. „Das sind alles Aliens hier“, sagt Caro einmal im Film – und will zu ihrem Peiniger zurück. Das Mädchen ist ein Mensch ohne eigenen Willen und mit gestörter Wahrnehmung. Wie fremd gesteuert geistert es durch die immer trostlosere Szenerie und folgt ihrem „Meister“ schlafwandlerisch wie einst die willenlose Ellen dem Blutsauger Nosferatu. Der Film nimmt dieses Szenario bereits in der einminütigen Eingangseinstellung ästhetisch vorweg. Wie von Geisterhand öffnen sich Gartentor und Haustüre des Eigenheims, in dem Caros Eltern mit ihren Töchtern wohnen. Die Kamera schleicht sich in die Familie so wie der Loverboy, der diese Gemeinschaft zerstört. 70 Minuten später müssen die Eltern der Wahrheit ins Gesicht sehen – und können es vor lauter Tränen nicht glauben: „Das kann nicht sein. Das ist unsere Caro.“ Jetzt, wo das Kind verloren scheint, wechselt die Perspektive zu den Eltern, an die sich in aufklärerischer Absicht der Film und der Themenabend ja genauso wendet wie an die gefährdeten Jugendlichen (und die den größten Teil des Fernsehfilm-Stammpublikums ausmachen). Als die Eltern ihre Tochter endlich wieder in den Arm nehmen können, ist da kein Gefühl mehr bei dem Mädchen, das vor Kurzem noch ihr „Hase“ war. Was in der Dokumentation zur Sprache kommt, zeigt sich auch im Spielfilm: „Die wenigsten Mädchen zeigen ihre Peiniger an“, sagt die Polizeipsychologin. Als Zuschauer sieht man, warum: Die monatelangen Erniedrigungen haben das Selbstwertgefühl des Mädchens zerstört. Da sind nur noch Scham und Schuldgefühle. Und der Vater bringt es – mit einem der wenigen Erklärsätze des Films – auf den Punkt: „Sie hat kein Leben mehr, in das sie zurückkommen könnte.“

„Ich gehöre ihm“ ist ein Film, der an die Schmerzgrenze geht. Als Zuschauer wird man Augenzeuge, wie die Hauptfigur unaufhaltsam in ihr Unglück läuft. Bei einem solchen durch die Realität verbürgten Stoff, bei der das Opfer eine Minderjährige ist, die einem Milieu entstammt, das dem vieler Fernsehfilm-Zuschauer entsprechen dürfte, ist es nicht leicht, dem tragischen Verlauf cool zu folgen. Indem die Grausamkeit der Abhängigkeitsspielchen und die Trostlosigkeit der Kinderprostitution im Bild betont und auf jeglichen Lolita-Touch verzichtet wird, gibt Regisseur Durchschlag dem Voyeur(ismus) keine Chance. Gleichzeitig aber kommt die ganze Brutalität zum Ausdruck. In einer einzigen Sequenz wird die Realität des nachmittäglichen Freier-Bedienens („Diese beiden Ficker sind deine Chance, mir deine Liebe zu beweisen“) deutlich gemacht. Unästhetische männliche Körper, dicke Bäuche, hässliche Gesichter, hilfloses Gerammel, verhaltene Stöhnlaute – in Sekunden-Ausschnitten vermittelt sich der „richtige“ Eindruck: Es ist die Sicht der Hauptfigur und wie sie mit der tagtäglichen Prostitution umgeht. Sie versucht, diese Erfahrung auszublenden, abzuspalten von ihrer Seele, die Männer nicht wahrzunehmen; die dazwischen geschnittenen Bilder vom leeren, abwesenden Blick des Mädchens machen aber deutlich, dass dies nicht so ohne weiteres geht. Noch deutlicher wird die Perversität der Situation, in die Caro hineingezogen wird, in der Szene, in der sie ihren ersten Freier empfängt. Das sterile Schlafzimmer-Ambiente, mittendrin sie, nur mit Dessous bekleidet, und ein Mann, dem die Situation anfangs ebenso peinlich ist. „Mensch Kind, wie bist du nur hierher gekommen und das in deinem Alter“, sagt dieser fast mitfühlend. „Hast du ihn schon mal in den Mund genommen?“, ist dann aber bereits sein zweiter Satz. Er kommt langsam auf sie zu. Sie weicht vor ihm zurück – bis sie an die Wand stößt und nicht mehr weiter kann. Der Anfang vom Ende. (Text-Stand: 29.7.2017)

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Fernsehfilm

WDR

Mit Anna Bachmann, Samy Abdel Fattah, Maria Simon, Bernd Michael Lade, Luna Fellmann, Vita Tepel, Billey Demirtas, Nima Mehrabani, Tom Hoßbach, Oktay Özdemir

Kamera: Olaf Hirschberg

Szenenbild: Alexander Scherer

Kostüm: Elena Wegner

Schnitt: Guido Krajewski

Musik: Maciej Sledziecki

Produktionsfirma: H&V Entertainment

Drehbuch: Angela Gilges, Ruth Olshan

Regie: Thomas Durchschlag

Quote: 4,42 Mio. Zuschauer (16,2% MA); Wh. (2022): 3,72 Mio. (14,5% MA)

EA: 17.08.2017 20:15 Uhr | ARD

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