Die Dallingers befinden sich mal wieder im Ausnahmezustand. Zwei Jahre hatte Vater Hans (Tobias Moretti), ein erfolgreicher Architekt, der unter paranoider Schizophrenie leidet, keinen psychotischen Schub mehr. Jetzt hat er sich an der Satellitenschüssel der Nachbarn vergriffen, weil er glaubt, sie würde ihm seine Gedanken abzapfen. Die aber braucht er, um die Ausschreibung eines Millionenprojekts zu gewinnen. „Geht’s wieder los?“, fragt der 22jährige Sohn Simon (Jonas Nay) besorgt. „Das legt sich schon wieder“, beschwichtigt die Mutter (Stephanie Japp). Nichts wird sich legen. Und der junge Mann wird weiterhin kaum Zeit für sich und seine Vielleicht-Freundin (Hanna Plaß) haben: Denn er ist es, der die Familie zusammenhält. Nach einem Hammerangriff wird Hans als gemeingefährlich eingestuft und kurzfristig in die Psychiatrie eingewiesen. Bald ist er medikamentös richtig eingestellt, und er wird wieder entlassen. Zuhause aber weigert er sich, seine Neuroleptika zu nehmen. Diesem Mann fehlt die Einsicht in seine Krankheit. Um den Zugriff auf seine Gedanken abzuwehren, kleidet er bald das ganze Haus mit Goldfolie aus, ernährt sich nur noch aus Dosen, damit ihm nicht seine Frau die Medikamente unters Essen mischen kann. Für die Zwangseinweisung reicht das nicht. Und so fährt Simon ihn an: „Tu uns endlich den Gefallen – und schlag zu!“
Foto: BR / Nikolaus Kassian
„Auch wenn der Film mit dem schönen Titel bisweilen eine Spur zu brav geraten ist, bleibt es doch eine ungeschönt wahrhaftige Auseinandersetzung mit einer unpopulären Seelenkrankheit“ (epd medien)
Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser intelligente Mann wieder in seine Wahnwelt abdriftet. Diese Form von Schizophrenie ist ein schleichender Prozess. Dramaturgisch widersetzt sich dieses Krankheitsbild einem differenzierten Spannungsaufbau, nicht zuletzt, weil die Welt dieser Krankheit sich dem „Normalen“ nicht erschließt, der Kranke psychologisch völlig anders tickt und er somit auch nicht zur Identifikationsfigur taugt. Und so macht der junge Autor-Regisseur Christian Bach denn auch den („normalen“) Sohn zu der Figur, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Klug ist das auch, weil er so die Angst, diese Krankheit vererbt zu bekommen, mit ins Spiel bringen kann. „Hirngespinster“ verzichtet auf eine übermäßige Dramatisierung. Das Familiendrama, das auch zeigt, wie die Betroffenen mit der Krankheit nach außen hin umgehen (Verdrängung, Scham, Vorurteile), ist unspektakulär inszeniert, die Handlung geht ihren überschaubaren Gang, die Charaktere werden ausgewogen dargestellt und ihre Probleme verantwortungsvoll austariert. Bach hat sich von der Familiengeschichte eines Jugendfreundes inspirieren lassen. Alles in dieser Kino-Koproduktion ist ein bisschen zu vernünftig, um ein richtig großer Film zu sein.
Foto: BR / Nikolaus Kassian
„Warum haben Schizophrene keine Krankheitseinsicht? Christian Bach nähert sich diesem Problem behutsam an. Sein ruhig inszenierter, auf spektakuläre Effekte verzichtender Film versucht gar nicht erst, den Zuschauer in das Labyrinth von Hans Dallingers Wahnkonstruktion hineinblicken zu lassen.“ (Manfred Riepe: Hänsel und Knödel verirrten sich im Wald, Psychologie heute. Sehr guter Text)
Da scheint so ein bisschen die Figur von Jonas Nay den Ton zu bestimmen. So wie jener Simon sich ständig zurücknimmt (nach seinem schweren Unfall fragt er als erstes: „Wie geht’s Papa?“), so scheint sich auch der Regisseur Bach gegenüber dem Autor Bach und vor allem gegenüber dem Thema zurückzunehmen. Andererseits ist diesem Film auch ästhetisch anzusehen, dass er sich ganz dem „Alltag“ verschrieben hat. Dazu bei trägt nicht zuletzt auch die Kameraarbeit von Hans Fromm, der viel für die Regisseure der Berliner Schule gedreht hat, und das herausragende, mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnete Spiel der beiden Hauptdarsteller: fein nuanciert und nie zu exaltiert Tobias Moretti, meist introvertiert, zwischen Scham, Frust und Furcht agierend, Jonas Nay. „Hirngespinster“ wirkt wie ein Ausschnitt aus einem Stück Leben dieser Familie. Das Ende bleibt entsprechend offen: Die Ehefrau wird die emotionale Gratwanderung mit diesem seltsamen Mann weitergehen, weil sie ihn liebt. Und der Sohn muss endlich sein eigenes Leben leben. (Text-Stand: 26.5.2016)