Eine mysteriöse Entführung im Jahre 2014
Der Titel ist zweideutig. Die Handlung wird tatsächlich zurückführen zu jenem historischen Tag im Jahr 1989, an dem der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher den im Garten der deutschen Botschaft in Prag ausharrenden DDR-Flüchtlingen bekanntgeben konnte, dass ihre Ausreise nach Westdeutschland genehmigt worden sei. Einer von ihnen ist Paul Westerberg (August Zirner). Er wird die Chance nutzen, in die Bundesrepublik wechseln und in den USA Karriere machen. Als erfolgreicher Unternehmer kehrt er nach der Wende nach Prag zurück, um an einem Technologiekongress teilzunehmen. Er hält eine Rede, bekommt viel Applaus. Mit seiner Assistentin Xenia Genth (Katharina Schlothauer) fährt er zurück ins Hotel. Später geht er noch einmal aus. Danach verliert sich seine Spur. Von Anbeginn ist klar: Westerberg wurde entführt. Die erste Begegnung von Zuschauer und Opfer datiert auf den 15. Dezember 2014. Es ist der 54. Tag seiner Gefangenschaft. Paul Westerberg spricht sich Mut zu: „Ich weiß, dass ich das hier überleben kann.“ Ein kaum merklicher Zeitsprung: 3. August 2016. Westerberg beschwört sich selbst, nicht aufzugeben. Aber seine Kräfte schwinden.
Zwei Jahre später findet ein Hamburger Aalfischer eine Flaschenpost. Darin eine tschechische Zeitung. Mit einem handgeschriebenen Hilferuf. Dem genreerfahrenen Drehbuchautor Florian Oeller gelingt hier eine geschickte Exposition. Gleich mehrfach wird Spannung angelegt: Nicht nur erhebt sich die Frage nach den Tätern, angesichts der langen Gefangenschaft geben deren Motive Rätsel auf – denn um eine Gelderpressung geht es ihnen augenscheinlich nicht.
Ein weiterer Angriff auf eine geschundene Seele
Ein toller Beginn, aber dann war der versierte Mechaniker gefragt: Oeller musste die Geschichte von der Elbe an den Rhein bringen, den Hamburger Flaschenfund zu einem Fall für die Düsseldorfer LKA-Kommissarin Helen Dorn (Anna Loos) werden lassen. Die Lösung: Ein junger BKA-Beamter namens Felix Schwarz (Christoph Letkowski), der sich in den Fall verbissen hat, kommt auf sie zu und bittet um ihre Unterstützung. Dorn befindet sich gerade in der Rekonvaleszenz. Sie wurde bei einem Schusswechsel schwer verletzt und überlebte nur knapp. Ein weiterer schwerer Knacks für ihre ohnehin angegriffene Psyche, was ihrem beruflichen Umfeld nicht entgeht. Ihre Dienstfähigkeit steht in Frage, sie aber will partout wieder arbeiten. Ihr ist schon klar, dass man sie wie auch den penetranten Kollegen Schwarz als „zum Kotzen nervig“ einstuft. Das Angebot, nach Prag zu fahren und dort noch einmal Westerbergs Verschwinden zu untersuchen, kommt folglich allen Beteiligten gerade recht.
Dorn bezieht Westerbergs damalige Suite. Dessen frühere Assistentin Xenia Genth (Katharina Schlothauer) lebt noch immer in Prag und zählt als Empfängerin einer dubiosen Zahlung zu den Verdächtigen. Eine Hotelangestellte kann mit einer Beobachtung weiterhelfen. Auch interessieren sich die Ermittler für die Besucher eines Empfangs, an dem Westerberg vor seinem Verschwinden noch teilgenommen hatte. Franka Späth ist Mitarbeiterin des Unternehmens, das für die Ausrichtung zuständig war. Da diese Figur von Nora Waldstätten gespielt wird, ist klar, dass ihr mehr zukommt als die Übergabe der Teilnehmer- und Mitarbeiterlisten. Oeller legt denn auch schnell offen, dass Franka Späth in Westerbergs Entführung verwickelt ist. Damit nimmt der Film eine Wendung: Spannungsauslöser ist nicht mehr die Frage nach den Tätern, sondern die nach deren Absichten. Zudem beginnt ein morbider Countdown: Westerberg soll an einem bestimmten Datum sterben. Und das ist bald.
Schuld & Sühne in mehrfacher Hinsicht – und modern erzählt
Mit dem Film „Prager Botschaft“ schließt die Reihe „Helen Dorn“ zur fernsehästhetischen Moderne auf. Autor Oeller und Regisseur Alexander Dierbach entschieden sich für eine diskontinuierliche, elliptische Erzählweise mit diversen Zeitsprüngen, die über die rein erläuternde Rückblendenfunktion hinausgehen – hier die ideale Form für eine multiperspektivische Bearbeitung des Themenpaares Schuld und Sühne. Auch verwischen Oeller und Dierbach in einigen Sequenzen die Grenzen zwischen Realität und innerer Wahrnehmung. In Deutschland mag eine solche Dramaturgie noch als extravagant gelten, andernorts ist sie bestens eingeführt und wird auch einem breiten Publikum zugemutet. Man denke nur an US-Thrillerserien wie „Scandal“, „Quantico“ und „How to Get Away with Murder“ oder an die britische Gaunerkomödienserie „Hustle – Unehrlich währt am längsten“, zu deren Stilismen auch das Einfrieren der Szenerie und das Durchbrechen der vierten Wand gehörte. Mit solchen Mitteln wird man zum aktiveren Zusehen animiert, sie verlangen höhere Aufmerksamkeit als eine chronologische Erzähllinie. Gekonnt ausgeführt, beziehen bewusste Irritationen den Betrachter intensiver ins Geschehen ein und erhöhen den Unterhaltungswert.
Dem Klischee nicht fern: die ewige Schmerzensfrau
Problematisch bleibt weiterhin die Hauptfigur Helen Dorn. Generell gerinnt mittlerweile fast schon zum Klischee, dass weibliche Ermittler als sperrig, abweisend, psychisch angeschlagen charakterisiert werden – Nachwehen der skandinavischen Serien „Kommissarin Lund“ und „Die Brücke – Transit in den Tod“ mit ihren unleidlichen Kommissarinnen, auch wenn das ZDF mit „Kommissarin Lucas“ selbst schon sehr viel früher und sehr überzeugend eine vergleichbare Figur geschaffen hatte. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, einmal eingeführte Charaktere in kürzerem Turnus und in konsekutiv angelegten Geschichten auftreten zu lassen, statt immer neue Reihen mit ähnlichen Protagonistinnen zu eröffnen. Bei Helen Dorn tritt hinzu, dass sie in bald jeder Episode einen kräftigen Schicksalsschlag hinnehmen muss. Aktuell wird sie in „Prager Botschaft“ von der beschriebenen Schussverletzung aus der Bahn geworfen. Obendrein muss ihr permanent leidgeprüfter Vater am Ende wieder ins Krankenhaus. Das ZDF kündigt bereits zwei neue „Helen Dorn“-Fälle an, und es klingt, als solle Helen Dorn endgültig als Schmerzensfrau des deutschen Samstagabendkrimis in die Programmgeschichte eingehen. Nicht dass es grundsätzlich Einwände dagegen gäbe, Fernsehermittler als anfällig und menschlich zu zeichnen. Allerdings ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Figur auf ihre Leidensfähigkeit reduziert und das Prinzip zur Masche wird. Das Problem zeigt sich nicht nur in einheimischen Fernsehfilmen. Auch die trotz ihrer Logikmängel vielgerühmte skandinavisch-deutsche Koproduktion „Die Brücke – Transit in den Tod“ hat mit Staffel 4 diese Grenze endgültig überschritten. Ein warnendes Beispiel. (Text-Stand: 14.11.2018)