Hätte Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin) doch auf seine innere Stimme gehört und diesen Fall abgelehnt – wie es seine erste spontane Reaktion war. Ausgerechnet in dem Ort auf dem Peloponnes, in dem er und seine später tödlich verunglückte Frau Maria (Dagny Dewath) vor sechs Jahren frisch verliebt ihren ersten gemeinsamen Urlaub verbracht haben, verschlägt es ihn nun, um dort nach einem verschollenen Bruder eines Münchner Geschäftsmannes (Christian Heiner Wolf) zu suchen. Im Gepäck hat er nur zwei Fotos: das von einem Haus, das die deutschen Brüder verkaufen wollten, und eines, das letzte, von dem Mann, den er finden soll, aufgenommen in einer Taverne, neben ihm auf dem Foto eine Frau. Wie Seeler herausfindet, handelt es sich bei ihr um Sarah (Petra Michelle Nérette), eine deutsche Urlauberin, die etwas zu verheimlichen scheint. Macht sie vielleicht gemeinsame Sache mit dem halbseidenen Partykönig Zehnberg (Kerem Can)? Oder war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Wegen der vielen Ungereimtheiten will der Privatdetektiv – wozu ihm auch sein Freund von der deutschen Polizei (Lasse Myhr) rät – schon die Koffer packen. Bevor es aber dazu kommt, befindet er sich auf einer steilen Küstenstraße, die Bremsen seines Wagens versagen – und jetzt wird ihm klar: Bei diesem Fall hat es jemand auf ihn abgesehen.
Foto: Degeto / Nikos Katsaros
Die dritte Episode der ARD-Premium-Reihe „Hartwig Seeler“ rückt die Vorgeschichte des durch den ungeklärten Tod seiner Frau (Unfall, Suizid oder war es gar Mord?) von Beginn an angeschlagenen Helden in den Fokus und führt sie packend zu Ende. Und so weckt wie bereits in „Gefährliche Erinnerungen“ (2019) und „Ein neues Leben“ (2021) die Titelfigur auch in „Im Labyrinth der Rache“ keine Assoziationen in Richtung einer deutschen Sportikone; der Name ist vielmehr wörtlich zu nehmen: Seeler leitet sich ab von Seele. Dieser Privatdetektiv dürfte – nachdem sich „Tatort“-Kommissar Faber gefangen hat – der am meisten mit seiner Psyche befasste Ermittler im deutschen Fernsehen sein. Das Trauma des mysteriösen Todes seiner Frau ist bei ihm allgegenwärtig. In Griechenland verschwimmen ihm die Bilder zwischen damals und heute. Die Urlauberin wohnt ausgerechnet in der Finca, in der er mit seiner Frau glücklich war. Und der Fall führt ihn an weitere Orte, einen romantischen Strand, eine düstere Grotte, mit denen er große Gefühle verbindet. Kann das ein Zufall sein? Seeler ist ein Suchender, im Beruf wie als Privatperson, und Matthias Koeberlin ist die perfekte Besetzung für diesen emotionalen Macher, der leidet, kämpft und nicht aufgeben kann.
Foto: Degeto / Nikos Katsaros
Der Zuschauer ist ganz auf Augenhöhe mit dieser Figur. Zwar wird er bemerken, dass Seeler selbst beschattet wird, mehr aber weiß er nicht. Aufmerksam das Geschehen verfolgend, klebt man dem Helden an den Fersen. Die Situationen sind nicht kompliziert, aber existentiell. Das Haus, das verkauft werden soll, gehört keinen deutschen Brüdern, Sarah lügt, sie kennt den Partykönig, und der Fuß des Helden auf der defekten Bremse ist eine markante Botschaft. Was das alles emotional bedeutet, das lässt sich an Koeberlins Gesicht ablesen. Seeler benötigt nicht unbedingt immer ein Gegenüber, damit der Zuschauer verstehen kann. Das ist dramaturgisch geschickt und emotionspolitisch äußerst effektiv. So kommt man als Betrachter Seeler ganz nah, empfindet, leidet mit ihm und baut Empathie auf. Der Film ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein starker Charakter und ein sympathischer Hauptdarsteller mit einer konzentrierten Dramaturgie und einer reduzierten Szenerie nebst elaborierter Filmsprache ausreichend „Spannung“ für neunzig Minuten erzielen können. Es muss nicht immer eine Unmenge an Handlung sein. Ein paar Nebenfiguren weniger sind oft gut für das Verständnis und für mehr Klarheit. Auf diese Weise kann die Landschaft die Geschichte miterzählen. Es ist also nicht nur Koeberlins Gesicht, das das Geschehen spiegelt, es sind auch die bizarren, zerklüfteten Felsenformationen, die einsamen Buchten und das Geheimnis konnotierende Meer, das das Innenleben des Helden stimmungsvoll nach außen projiziert.
Es gehört zum Wesen von Krimi-Dramen, dass sie gern die Vergangenheit bemühen. Die Betonung liegt dabei allzu häufig auf dem Wort „bemühen“. Bei Autor-Regisseur Johannes Fabrick hingegen, der kreativen Kraft hinter allen drei „Seeler“-Episoden, sind Vergangenheit und Gegenwart ständig im Austausch, sie fließen ineinander, funktionieren ganz ähnlich wie die menschliche Wahrnehmung und ein noch komplexeres Phänomen: Erinnerung. Du kannst dir niemals sicher sein – auf diesem Prinzip basiert nicht nur das Erzählte, sondern auch die Erzählweise in vielen von Fabricks Krimidramen. Das Beobachtete ist nie unabhängig vom Beobachter. Immer stellt sich die Frage: Ist alles so, wie es scheint, oder macht sich das erinnernde Subjekt etwas vor? Immer mehr TV-Krimiplots arbeiten kreativ mit diesem Dilemma; in „Im Labyrinth der Rache“ wird es erweitert durch das Motiv der bewussten Fälschung, der Manipulation von außen. Im Finale werden dem Zuschauer die Hintergründe des Falls, die falschen Fährten, die vermeintlichen Zufälle „erklärt“. Wieder sind es einmal mehr Koeberlin und das Prinzip der konzentrierten Kommunikation, die diesen verbalen Schlussakkord tragen und keineswegs eine Action-Auflösung vermissen lassen. Allein an die narrative Konstruktion, die abstrusen psychologischen Motive für die Handlung, sollte man möglichst keinen Gedanken verschwenden. Da greift der Thriller-typische Antagonisten-Blödsinn. Ein Vorteil jedoch für den Film: Das Böse bleibt – ähnlich wie in Hitchcock-Filmen – lange im Verborgenen. Der in eine Intrige geratene Protagonist gibt allein den Ton an.
Foto: Degeto / Nikos Katsaros