Hartwig Seeler – Gefährliche Erinnerung

Matthias Koeberlin, Friederike Becht, Fabrick. Hypnotisches Psychokrimidrama

Foto: Degeto / Sabine Finger
Foto Tilmann P. Gangloff

Der österreichische Regisseur Johannes Fabrick steht für existenzielle Dramen, in denen es oft genug ums Sterben geht. Ein Film über einen Privatdetektiv, der nach einer verschwundenen jungen Frau suchen soll, und dann noch auf dem Sendeplatz des „Donnerstagskrimis“ im Ersten: Das passt auf den ersten Blick nicht zusammen. Aber der Schein trügt: „Hartwig Seeler – Gefährliche Erinnerung“ (Degeto / Hager Moss Film) lässt das Krimigenre recht bald hinter sich und wandelt sich zu einem anspruchsvollen Drama, in dem die Hauptfigur die Abgründe der eigenen Seele erkundet; der Film ist einer Reihe wie „Bloch“ daher deutlich näher als den Donnerstagskrimis aus Tel Aviv oder Lissabon. Matthias Koeberlin verkörpert die Titelrolle mit viel Feingefühl und sehr berührend. Wunderschöne Schauplätze an der kroatischen Adria-Küste sorgen dafür, dass auch Fernweh-Erwartungen erfüllt werden.

Es gibt nicht viele Regisseure, deren Filme regelmäßig derart berühren wie die Arbeiten des Österreichers Johannes Fabrick. Seine Dramen behandeln meist existenzielle Themen und sind nicht selten tieftraurig. Das Ungewöhnlichste an „Gefährliche Erinnerung“ ist daher zunächst die Tatsache, dass die Handlung so gewöhnlich wirkt: Ein Vater (Michael Wittenborn) bittet den Privatdetektiv Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin), seine spurlos verschwundene erwachsene Tochter zu suchen. Das klingt nach einem üblichen Krimi und überhaupt nicht wie ein Fabrick-Stoff. Schon der Titel  klingt beliebig, vom Inhalt ganz zu schweigen, erst recht gemessen an Werken wie „Ein langer Abschied“ (2006), „Der letzte schöne Tag“ (2012, Grimme-Preis), „Pass gut auf ihn auf!“ (2013) oder „Wenn es am schönsten ist“ (2014), in denen es um das Sterben eines Kindes, den Suizid eines geliebten Menschen oder schwere Krebserkrankungen ging. Die meisten Fabrick-Filme der letzten Jahren sind fürs ZDF entstanden, „Hartwig Seeler“, vielleicht der Auftakt einer neuen Reihe, im Auftrag der Degeto. Für die ARD-Tochter hat der Regisseur zwar bereits das zweiteilige Drama „Der kalte Himmel“ (2010, mit Christine Neubauer als Mutter eines autistischen Jungen) gedreht, aber „Hartwig Seeler“ ist ein Donnerstagskrimi. Die entsprechenden Produktionen spielen gern an pittoresken Orten wie Venedig, Tel Aviv oder Lissabon. Die Mehrzahl dieser Auslandsreihen ist zwar sehenswert, aber sie dienen vor allem dem Zeitvertreib. Das Etikett „Fernweh-Fernsehen“ würde bei einem Fabrick-Stoff ohnehin mehr als befremdlich wirken, selbst wenn sich „Gefährliche Erinnerung“ zu großen Teilen an der kroatischen Adria-Küste zuträgt.

Hartwig Seeler – Gefährliche ErinnerungFoto: Degeto / Domagoj Kunic
Einfühlsam. Evelyn (Caroline Hellwig) findet Trost bei Amanda (Friederike Becht).

Umso überraschender, jedenfalls  angesichts des Sendeplatzes, offenbart der Film schließlich eine Handlung, die im Grunde kein Krimi mehr ist; jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Die Geschichte erinnert viel eher an „Bloch“, die WDR/SWR-Reihe mit Dieter Pfaff als Psychiater, der sich in gewisser Weise detektivischer Mittel bediente, um in der Biografie seiner oft traumatisierten Patienten nach den Ursachen für ihre schwerwiegenden psychischen Probleme zu suchen. Ähnliche Erkundungen in der Seele betreibt auch Hartwig Seeler. Matthias Koeberlin hat für Fabrick bereits die Hauptrolle in „Der Polizist, der Mord und das Kind“ (2018) gespielt, dem Titel zum Trotz ebenfalls kein Krimi. In dem schmerzlich-schönen Drama verkörpert Koeberlin einen Opferschutzkommissar, der sich um den Sohn einer ermordeten Frau kümmert. In einem Interview sagt der Regisseur, er habe den Schauspieler „als stillen, sehr sensiblen Menschen kennengelernt. Das sind optimale Voraussetzungen für Hartwig Seeler.“ Der Privatdetektiv ist in der Tat eine typische Fabrick-Figur: Vor 14 Monaten hat Seeler seine Frau verloren. Sie ist bei einem Autounfall auf einer Bergstraße gestorben. Die Umstände sind ungeklärt, es gab keine Bremsspuren, und gerade diese Ungewissheit macht ihm zu schaffen. Er hat nie irgendwelche Anzeichen für Lebensmüdigkeit wahrgenommen, aber vielleicht hat er sie ja auch bloß übersehen.

Diese Geschichte lässt Fabrick seine Hauptfigur jedoch erst später erzählen, als sich Seeler auf eine Weise öffnet, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte. Zunächst schildert der Film die unspektakuläre Alltagsarbeit eines Ermittlers: Der Privatdetektiv, der den Polizeidienst nach dem Verlust seiner Frau quittiert hat, befragt die Eltern, den Arbeitgeber, eine Nachbarin; erfolglos. Evelyn Kepler führte ein völlig unauffälliges Leben. Ein Familienfoto, das der Vater erwähnt hatte, findet Seeler in einer Abstellkammer. Und dann gibt es endlich eine erste Spur: Evelyn hat sich das Buch eines Autors namens Aljoscha gekauft. Der Mann scheint eine Art Guru zu sein und betreibt auf einer kroatischen Insel ein Refugium für alle, die mühselig und beladen sind. Seeler vermutet, dass auch Evelyn seinem Ruf gefolgt ist. Mit seiner Ankunft des Detektivs auf der Insel endet nicht nur der erste Akt, sondern auch der Krimi-Anteil: Seeler findet die gesuchte Evelyn, aber vor allem sich selbst.

Hartwig Seeler – Gefährliche ErinnerungFoto: Degeto / Domagoj Kunic
Opferschutzkommissar Seeler (Koeberlin) und seine persönlichen Betreuerin Amanda (Friederike Becht), die Evelyns Vater (Michael Wittenborn) schwere Vorwürfe macht.

Dieser Film erinnert einen daran, dass es einmal 24 Episoden einer Reihe namens „Bloch“ gab. Dass es zwei Psycho-Drama-Nachfolgeprojekte gab, eines mit Katja Riemann, eines mit Bibiana Beglau & Joachim Król, die nach verheißungsvollen Start im Sand verliefen. Dieser Film erinnert auch daran, dass es nicht ausreicht, wenn man Kommissare mit seelischer Last belädt und als Genre 100 Prozent Krimi wählt. Johannes Fabrick geht mit „Hartwig Seeler“ einen anderen Weg. Er macht weder Hypnose von vornherein zum Buhmann, noch entwertet er in seiner Geschichte Spiritualität. Wie bei der Ausnahme-Reihe mit Dieter Pfaff entwickelt man als Zuschauer bei „Gefährliche Erinnerung“ großes Interesse an den Figuren. Koeberlin nimmt einen mit auf eine Reise. Wenn sein Seeler redet, wenn er denkt, wenn er fühlt, hört man zu, guckt genau hin. Der Film erzählt eine faszinierende Geschichte, er schult durch das von Fabrick perfektionierte Prinzip der Reduktion aber auch die Wahrnehmung und ermöglicht so einen empfindsamen Zugang zu dem verhandelten Fall, dem Verhältnis einer jungen Frau zu ihren Eltern.  tit.

Dass Matthias Koeberlin, nicht zuletzt dank „Kommissar Marthaler“ und „Die Toten vom Bodensee“ ein vielbeschäftigter Schauspieler, glaubwürdig einen Ermittler verkörpern kann, hat er in den beiden Krimireihen bewiesen. Die jeweiligen Hauptfiguren, aufgrund unerfreulicher Beziehungserlebnisse ziemlich angeschlagen, sind allerdings mehr als bloß die üblichen „Wo waren Sie zwischen…“-Kommissare. Das mag Fabrick bewogen haben, Koeberlin die Titelrolle in „Der Polizist, der Mord und das Kind“ anzuvertrauen, die der Schauspieler mit viel Feingefühl verkörpert hat. Für seine Rolle als Hartwig Seeler war diese Eigenschaft mindestens genauso wichtig, denn der Privatdetektiv lässt sich auf ein heikles Unterfangen ein. Zunächst hält er Aljoscha für einen Sektenführer, aber nach der Ankunft auf der malerischen Insel stellt er fest, dass dessen Mitarbeiter eine auf Hypnose basierende Psychotherapie betreiben. Mithilfe seiner persönlichen Betreuerin, Amanda (Friederike Becht), taucht Seeler tief in die eigene Psyche ein, trifft dort selbstverständlich seine Frau und ist anschließend erschütterter als zuvor.

Hartwig Seeler – Gefährliche ErinnerungFoto: Degeto / Domagoj Kunic
… und auch die so einfühlsame Amanda (Friederike Becht) leidet selbst unter einem Trauma.

Fabrick hat den Film mit großem Bedacht inszeniert, sodass sich einige wenige Szenen aufgrund ihrer besonderen Bildgestaltung deutlich vom Rest des Films abheben. Das gilt vor allem für das Hypnoseerlebnis, als Gattin Maria, dank Dagny Dewaths markanter Physiognomie sehr präsent, rücklings ins Wasser stürzt und Seeler ihr hinterher taucht. Später wird der Film dieses inhaltlich bedrückende, optisch dank der Lichteffekte beeindruckende Bild mehrfach aufgreifen. Kameramann Helmut Pirnat, mit dem Fabrick immer wieder zusammenarbeitet, ist sicherlich nicht nur ein Weggefährte des Regisseurs, sondern vermutlich ebenso ein Seelenverwandter wie Kirsten Hager, die viele von Fabricks Dramen produziert hat. Auch akustisch ist die Szene eindrucksvoll: Der Regisseur setzt Amandas Stimme so geschickt auf zwei unterschiedlichen akustischen Ebenen ein, dass sie in der Tat hypnotisch wirkt. Friederike Becht war ohnehin eine ausgezeichnete Wahl für diese ihre Rolle, weil Amanda auf Anhieb sympathisch ist. Die junge Frau ist rückhaltlos vom Wert ihrer Arbeit überzeugt. Für die Geschichte ist es dramaturgisch sehr wichtig, dass sich Seeler auf diese Therapieform einlässt. Er muss am eigenen Leib erfahren, was Evelyn während der Sitzung erlebt hat: Dank der Hypnose stößt sie auf ein düsteres Kindheitserlebnis, das ihre Psyche offenbar viele Jahre lang erfolgreich verdrängt hat. Der zwischenzeitlich auf der Insel eingetroffene Kepler, von Wittenborn glaubwürdig als verzweifelter Vater verkörpert, beteuert jedoch überzeugend, derartiges sei nie geschehen. Damit ist der Film bei seinem eigentlichen Kern: Als ehemaliger Polizist weiß Seeler, wie trügerisch das Gedächtnis mitunter ist. Aber kann es sein, dass sich ein Mensch die Erinnerung an ein traumatisierendes Erlebnis nur einbildet, weil er die eigene Vergangenheit durch die Brille eines anderen betrachtet hat?

Die vornehmlich auf Einschaltquoten fixierte ARD Degeto, die bislang alle unkonventionellen Donnerstagskrimis wie „Kommissarin Louise Boni“ „Zorn“, Palfraders „Metzger“-Reihe, „Kommissar Pascha“ oder den „Tel-Aviv-Krimi“ allzu bald abgesetzt hat, wird etwaige Fortsetzungen wohl leider einmal mehr allein davon abhängig machen, wie gut der Film ankommt. Das Thema ist zwar faszinierend, aber auch anspruchsvoll; das spricht eher gegen einen Publikumserfolg, zumal auf diesem Sendeplatz. Dafür sprechen allerdings Koeberlin sowie der Drehort: Pirnat sorgt für einige schöne Urlaubsbilder. Besonders reizvoll ist eine zerklüftete Felslandschaft mit kleinem See und vielen Wasserfällen. Dort trägt sich eine weitere Schlüsselszene zu: Hier zieht sich die Gruppe zur Meditation zurück, hier gewährt Evelyn, von Caroline Hellwig sehr ätherisch und entsprechend fragil verkörpert, dem Detektiv Einblick in ihr Seelenleben; entsprechend schockiert sind sie und Amanda, als sich rausstellt, dass Seeler sie ausgerechnet im Refugium mit ihrem vermeintlichen Albtraum konfrontiert.

Hartwig Seeler – Gefährliche ErinnerungFoto: Degeto / Sabine Finger
Hartwig Seeler (Matthias Koeberlin, Mitte) hat Felix Kepler (Michael Wittenborn) zu seiner Tochter Evelyn (Caroline Hellwig) geführt. Ab da bekommt die Geschichte psychologischen Tiefgang: Dank einer Hypnose stößt Evelyn auf ein düsteres Kindheitserlebnis, das ihre Psyche offenbar viele Jahre lang erfolgreich verdrängt hat. Aber auch die Seeler (nomen est omen!) holt einiges aus seiner Seele ans Tageslicht.

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Matthias Koeberlin, Friederike Becht, Caroline Hellwig, Michael Wittenborn, Michaela Caspar, Lasse Myhr, Dagny Dewath

Kamera: Helmut Pirnat

Szenenbild: Thomas Neudorfer, Veronika Radman

Kostüm: Janne Birck

Schnitt: Mona Bräuer

Musik: Manu Kurz

Redaktion: Carolin Haasis, Sascha Schwingel (Degeto)

Produktionsfirma: Hager Moss Film

Produktion: Kirsten Hager

Drehbuch: Johannes Fabrick

Regie: Johannes Fabrick

Quote: 5,73 Mio. Zuschauer (20,1% MA); Wh. (2020): 4,61 Mio. (14,3% MA)

EA: 11.05.2019 20:15 Uhr | ARD

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