Die kriminellen Antagonisten sind Menschen in Maßanzügen & feinen Kostümen
Eine Interpol-Einheit sucht bei einer Razzia in Tschechien nach gefälschten Medikamenten. Die Ermittler werden dabei von Männern attackiert; der Chef der Agentin Juliette Pribeau (Julia Koschitz) stirbt an den Folgen der Messerstiche. Der konventionelle, mit ein wenig Action gespickte Thriller-Start bleibt die Ausnahme: Die kriminellen Antagonisten sind in diesem Fernsehfilm keine gewaltbereiten Schlägertypen, sondern Menschen in Maßanzügen und feinen Kostümen. Pribeau findet in Tschechien Hinweise auf die Firma eines Münchener Zwischenhändlers und lässt sich von Günther Kompalla (Heiner Lauterbach), dem Chef von Kompa Pharm, durch das Unternehmen führen. Kompalla gibt sich charmant, aber ahnungslos, was das Geschäft mit gefälschten Medikamenten angeht. Seine Tochter Katrin (Luise Heyer) arbeitet als Ärztin in Indien und behandelt im Auftrag einer Hilfsorganisation die Slum-Bewohner von Mumbai. In wenigen Tagen will sie dort ihren Kollegen Kiran (Arfi Lamba) heiraten. Ihr Vater hat sich bisher kaum um sie gekümmert. Als Kompalla nach einem Verkehrsunfall erfährt, dass er unter Krebs leidet und nur noch kurze Zeit zu leben hat, will er seine letzten Dinge regeln: die Firma verkaufen und sich mit seiner Tochter aussöhnen.
ARD-Themenabend mit Dokumentation, dazu Web-Specials & Hörfunk-Angebote
Der Fernsehfilm „Gift“ ist Teil eines medien- und Genre-übergreifenden Gesamtpakets, mit dem die ARD ein in Deutschland bisher wenig beachtetes Thema in den Fokus rücken will: Das milliardenschwere Geschäft mit gefälschten Medikamenten. Das Ausmaß ist erschreckend. Im Film zitiert Pribeau die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die davon ausgeht, dass minderwertige, wirkungslose oder sogar tödliche Arzneien jedes Jahr das Leben von einer Million Menschen kosten. Wieder ist es der Autor, Regisseur und Produzent Daniel Harrich, der nach intensiver Recherche versucht, das Publikum auf verschiedenen Kanälen über die komplexen Zusammenhänge aufzuklären. Zuletzt hatte er sich mit illegalem Waffenhandel beschäftigt und war mit einem Grimme-Preis in der Kategorie Information und Kultur für seine „journalistische Leistung bei der Recherche“ ausgezeichnet worden. Der preisgekrönten Dokumentation „Tödliche Exporte“ war in der ARD mit „Meister des Todes“, ein fiktionaler Film, vorangestellt worden. So auch in diesem Fall: Auf „Gift“ folgt im Ersten Programm Harrichs Dokumentation „Gefährliche Medikamente – gepanscht, gestreckt, gefälscht“. Außerdem hat er gemeinsam mit Patricius Mayer eine Web-Doku produziert, die auf www.tagesschau.de/pharmacrime abrufbar ist. Zum Gesamtpaket gehören des Weiteren das Web-Special www.DasErste.de/gift, das Sachbuch „Pharmacrime – kopiert, gepanscht, verfälscht“ (von Harrich / Harrich-Zandberg), ein Radiofeature (von Jeanne Turczynski) und verschiedene, von den ARD-Hörfunkwellen veranstaltete Podiumsdiskussionen.
Autor Daniel Harrich will eine Diskussion in Gang bringen
Harrich erhofft sich von dieser Vorgehensweise eine „gewaltige Energie“, um direkte Wirkung zu erzeugen. Ein einzelner Film, so scheint es, reicht heute dafür nicht mehr aus. Der Wunsch der an diesem Projekt Beteiligten sei es, sagt Harrich, „dass die dringend notwendige gesellschaftliche und politische Diskussion endlich in Gang kommt. Ein derart lebenswichtiges Thema wie Arzneimittelsicherheit darf nicht Teil eines industriepolitischen Kompromisses sein, der in Hinterzimmern ausgekungelt wird“. Den Zuschauer sieht er als eine Art Komplizen: „Müssten Pharmakonzerne den Ursprung sowie die Herstellungsstätte dieser lebenswichtigen Präparate angeben, würde das möglicherweise die Arzneimittelsicherheit enorm erhöhen. Mehr Transparenz der Hersteller in Bezug auf Ihre Produkte kann aber nur durch den Druck der Konsumenten entstehen.“
Bemerkenswertes Star-Aufgebot, zum Teil in leider schematischen Rollen
Die aufwändige Recherche und die aufklärerische Haltung sind natürlich lobenswert – das ist öffentlich-rechtliches Fernsehen, das seinen Auftrag ernst nimmt. Aber auch wenn „Gift“ Teil eines Paketes ist, muss der fiktionale Film mit einer packenden Geschichte und interessanten Figuren als Einzelstück bestehen. Das gelingt auch, mit Abstrichen. Wer etwas enthüllen, wer Ross und Reiter nennen möchte, erliegt leicht der Gefahr, die Welt plakativ in Gut und Böse einzuteilen. Auch in „Gift“ erfüllen wichtige Figuren von Beginn an eine leicht erkennbare Funktion und wirken entsprechend schematisch: die aufstrebende Interpol-Ermittlerin, die sich nicht unterkriegen lässt; die idealistische Unternehmer-Tochter, die in Indien Gutes tut; der skrupellose Pharma-Manager und der eiskalte Banker, die keine Ideale, nur Rendite und Profit kennen. Julia Koschitz, Martin Brambach und Ulrich Matthes wurden in anderen Filmen schon mehr gefordert, nehmen sich im Dienst der Sache hier aber auch angenehm zurück. Das bemerkenswerte Star-Aufgebot ist offenbar dem guten, investigativen Zweck geschuldet.
Furtwängler contra Koschitz: Duell zweier erfolgreicher Frauen in einer Männerwelt
Und die Besetzung entspricht nicht immer dem öffentlich gepflegten Image: Maria Furtwängler zum Beispiel darf hier mal auf die Seite der „Bösen“ wechseln. Sie spielt die interessanteste Figur im Hinterzimmer-Schach, eine Wissenschaftlerin, die sich geschickt auf allen Ebenen bewegt. Vera Edwards leitet den Lehrstuhl für Angewandte Medizin an der Universität Bonn, hat beste Kontakte zum Pharma-Riesen Poindex, zu internationalen Organisationen wie der EU – und sie nutzt als Interpol-Beraterin ihren Einfluss, um Juliette Pribeaus Ermittlungen zu beeinflussen. Furtwängler ist mit ihrer distanziert-weltgewandten Ausstrahlung eine gute Besetzung für die Lobbyistin, deren Persönlichkeit hinter einem perfekten Lächeln und der professionellen Fassade nahezu verschwindet. Edwards kann Pribeau zwar nichts vormachen, ist ihr aber am Ende immer einen Schritt voraus. Daniel Harrich und sein Co-Autor Gert Heidenreich haben sich für den Schluss eine bittere, starke Pointe einfallen lassen. In das Duell zweier Frauen, die in einer Männerwelt Karriere machen, wird jedoch etwas halbherzig auch noch ein bisschen Privates gemischt: Pribeau leidet unter der Trennung von ihrer Familie. Ihre Tochter lebt beim Vater, erfährt man zu Beginn. Später beobachtet sie aus der Ferne das verlorene Familienglück. Über Vera Edwards‘ Privatleben erfährt man nichts, allerdings versetzt sie der Agentin einmal mit einer gemeinen Bemerkung einen gezielten Schlag. Von wegen Frauen-Solidarität.
Gernot Rolls vertikaler Kamera-Blick: Wir hier oben, Ihr da unten
Harrich & Heidenreich packen den Film auch sonst gehörig voll. „Gift“ ist Wirtschaftsthriller, Familien- und Sozialdrama. Der Profitgier und den Intrigen in der Pharmabranche wird – auch in der Bildgestaltung von Alt-Meister Gernot Roll – die nackte Armut gegenübergestellt. Die krassen Gegensätze spiegeln sich in den Licht-Kontrasten und in den eindrucksvollen Schauplätzen, etwa in der Wohnanlage, in der Katrin und Kiran in Mumbai leben. Zwischen den bewachten Hochhäusern haben sich Slums wie ein wuchernder Teppich ausgebreitet. Auch für die idealistischen Helfer gilt: Wir hier oben, Ihr da unten. Diese vertikale Kamera-Einstellung nutzt Roll immer wieder, auch beim Blick hinaus aus Kompallas Münchener Penthouse oder aus dem Luxus-Hotel in Mumbai. Aber die Kamera bewegt sich auch horizontal, mitten hinein in den Slum, wo Katrin und Kiran Arzneimittel in einer abenteuerlich anmutenden Apotheke abholen, die Medikamente verteilen und Kranke behandeln. Wo sich die Müll-übersäten Wege zwischen den erbärmlichen Hütten in Matsch verwandeln. Es ist Regenzeit, der Monsun verstärkt die erschütternde Wirkung – und den eklatanten Gegensatz zur sterilen Ästhetik der Büros und Sitzungssäle, in denen sich die Protagonisten der reichen Gegen-Welt bewegen. Die wirkliche Slum-„Kulisse“ ist eigentlich ausdrucksstark genug, aber da gibt es noch den Jungen, der barfuß und nur mit einem knappen Hemd bekleidet durch Regen und Matsch läuft – eine inszenierte, ausgestellte Armut, die Unbehagen bereitet.
Das Familiendrama ist absehbar und bleibt ein Vehikel für die Botschaft
Vom Geschäft mit gefälschten Medikamenten können alle betroffen sein, aber zuerst trifft es die Ärmsten. Günther Kompalla wird dies nicht unbekannt sein. Er hat gute Kontakte zu Bishen Pharma in Mumbai, wo die gefälschten Medikamente produziert werden. Und als seine Tochter kurz vor der Hochzeit an Typhus erkrankt, sorgt Kompalla dafür, dass der mit ihm befreundete Chef von Bishen Pharma persönlich ein wirksames Antibiotikum in die Klinik bringt. Kompalla hat nur Augen für seine Tochter, die anderen Patienten kümmern ihn nicht. Auch hier gilt: Wir hier oben, Ihr da unten. Zur Hochzeit, bei der Katrin wundersamerweise wieder putzmunter ist, lädt Kompalla den „Freund“ von Bishen Pharma ebenfalls ein. Zum reuigen Sünder mutiert Kompalla nicht. Dass er schließlich doch auspackt, hat vor allem damit zu tun, dass er kurz vor seinem Tod mit seiner Tochter ins Reine kommen will. Lauterbachs abgeklärtes Spiel bewahrt der Figur etwas Ungewisses, Diffuses. Aber der Verlauf des Vater-Tochter-Konflikts ist erstens ziemlich absehbar und zweitens etwas sehr offensichtlich ein Vehikel für die Botschaft des Films. Für die letzte, nicht absehbare Wendung sorgt dann der Sicherheitschef von Poindex (Michael Roll). Das Ende bleibt ernüchternd. Ein paar Sündenböcke werden geopfert, aber das korrupte System bleibt intakt. Oder, wie Vera Edwards in zynischer Doppeldeutigkeit formuliert: „Wir haben alles unter Kontrolle.“ Harrichs „Gift“ ist kein fiktionales Meisterwerk, aber ein wichtiger, brisanter, hoch aktueller Film, der das Publikum mit der Frage zurücklässt: Kann das sein? Daniel Harrich sagt, er folge einem klaren inhaltlichen Prinzip: „So nah an der Realität wie juristisch möglich – so weit fiktionalisiert wie juristisch nötig. Gleichzeitig distanzieren wir uns von jeglicher Form von Spekulation und Verschwörungstheorie.“ Sollten als Nebenwirkung Zweifel aufkommen, lesen Sie das Web-Special oder schauen Sie die Dokumentation. (Text-Stand: 27.4.2017)