Emma nach Mitternacht – Der Wolf und die sieben Geiseln

Katja Riemann, Ben Becker, Wolfgang Stauch, Torsten C. Fischer. Katz-&-Maus-Spiel

Foto: SWR / Johannes Krieg
Foto Rainer Tittelbach

Von Marokko ins Funkhaus und weiter zum Ort einer Geiselnahme. Katja Riemann spielt in „Der Wolf und die sieben Geiseln“ eine Frau, die nichts aus den Latschen hauen kann, eine Nighttalkerin, die ein Geheimnis hat – und eine geile Stimme. Aber auch das Timbre von Ben Becker als verzweifeltem Geiselnehmer ist großes Kino. Die beiden geben ein dialog- und spannungsreiches Duett, halb Psychodrama, halb Thriller. Der Film ist Auftakt der neuen ARD-Reihe „Emma nach Mitternacht“: anspruchsvolle Unterhaltung, die „Geschichte“ aber das Gegenteil von erkenntnisreich und damit das Gegenteil von „Bloch“, dessen Nachfolge-Projekt die Reihe ist. Ohne Krimi & Gewalt geht offenbar auch im „Ersten“ nichts mehr.

Eine Geiselnahme entwickelt sich zu einem Spiel auf Leben und Tod
Emma Mayer (Katja Riemann) ist für die Radiosendung „Die Nachtpsychologin“ engagiert worden. Aber nicht sie, sondern Elisabeth Gira (Mechthild Großmann) sitzt Gin schlürfend am Mikrophon. Die nach einer einjährigen Auszeit gerade erst aus Marokko eingeflogene Psychotherapeutin soll nur die Anrufe vorfiltern. Doch Minuten später ist sie mit ihrem Chef, dem Redakteur Benno Heinle (Andreas Schmidt), auf dem Weg zu einer Geiselnahme. Ein Mann (Ben Becker) hat sich mit fünf Geiseln in einer Tankstelle verschanzt. Emma hatte ihn in der Leitung, würgte ihn ab, um vor Ort in Zusammenarbeit mit einem Einsatzkommando der Polizei bei der Lösung des „Problems“ zu helfen. Mit einem Mikrosender ausgestattet, steht sie wenig später im Verkaufsraum der Tankstelle. Das Seltsame: Der Mann stellt keine Forderungen. „Ich will Gerechtigkeit“, sagt er, „ich bin kein schlechter Mensch.“ Emma versucht, die Gemüter zu beruhigen, sie verwickelt den Mann in ein Gespräch, um ihm Informationen über seine Person zu entlocken und um der Polizei so Hinweise auf seine Identität zu geben. Dann schlägt sie dem offenbar Verzweifelten, dem jeglicher Lebenssinn abhanden gekommen ist, ein Spiel vor: Er soll ihr Fragen über sein Leben stellen – und sie verspricht ihm Erkenntnis über sich selbst. Jede richtig beantwortete Frage wird mit der Freilassung einer Geisel vergütet. Versagt sie allerdings mehrfach, wird es Tote geben.

Emma nach Mitternacht – Der Wolf und die sieben GeiselnFoto: SWR / Johannes Krieg
Geiselnahme, keine Forderung, das Muster der Fessel – Simuliert der Geiselnehmer eine Situation, die ihm selbst passiert ist? Besonders perfide: Eine der Geiseln (Friederike Linke) hat die Wahl – wenn sie die Psychologin erschießt, ist sie frei.

Spannungsreiches Duett: Die Frau hat einen Plan, der Mann eine Waffe
Direkt aus dem Flieger ins Funkhaus und wenig später mittenrein in eine Geiselnahme. Diese „Emma Mayer“ ist ein spontaner Typ, so spontan, dass sie schon mal ihr Leben gegen das einer anderen tauscht und am Ende gar nicht Emma Mayer ist und vielleicht auch gar keine Psychologin. Das interessiert aber erst einmal nur am Rande der ersten Episode der neuen ARD-Reihe „Emma nach Mitternacht“. Katja Riemann spielt jene Frau, die offensichtlich nichts aus den Latschen hauen kann – und das ist fast schon Ereignis genug. Dass „Der Wolf und die sieben Geiseln“ aber nicht zu einem Solo wird, dafür sorgt Ben Becker als Geiselnehmer. Sein Wolf Marx will die Ohnmachtgefühle abstreifen, indem er ein Szenario kreiert, in dem allein er das Sagen hat. Diesem Mann muss ein furchtbares Schicksal widerfahren sein. „Ich mache hier nichts Böses“, sagt der Geiselnehmer, der nichts von einem typischen Geiselnehmer hat. Außer der Waffe in der Hand. Da er keinen Plan zu haben scheint, sondern vielleicht nur eine Hoffnung, kommt ihm das Spiel der Psychologin entgegen. Damit gibt er gleichsam aber mehr und mehr die Kontrolle ab. Das Katz-und-Maus-Spiel wird immer wieder unterbrochen durch kleine Demonstrationen seiner Macht. Einen Hund hat er schon erschossen, jetzt quält er schon mal eine Geisel, indem er sie vor die Wahl stellt: die eigene Freiheit für den Tod der Psychologin. Um das dialogreiche Kammerspiel noch weiterhin zu beleben, schickt Autor Wolfgang Stauch den Redakteur auf die Suche nach der Identität des Geiselnehmers – und irgendwann durchforstet dieser die Krankenakte des Mannes, der von Night-Talkerin Gira 281 Sitzungen lang psychoanalysiert wurde.

Ein Selbstläufer: spannend, filmisch versiert, Katja Riemann & Ben Becker
„Der Wolf und die sieben Geiseln“ ist mehr spannendes Psychodrama als ein klassischer Geiselnahmethriller. Der Nervenkitzel kommt dennoch nicht zu kurz – auch weil der Leiter des Einsatzkommandos nach der ersten Eskalation in der Tankstelle die Freigabe des finalen Rettungsschusses anfordert und alsbald erwartet. Und so stellt sich für den Zuschauer die Frage: Wer hat das letzte Wort – Psychologie oder rohe Gewalt? Dramaturgisch läuft der Film quasi von selbst. Und filmisch werden beide Seiten von Regisseur Torsten C. Fischer eindrucksvoll ins Bild gerückt: Hier die Psychologin, der das Strahlen bald vergeht, und ihr rätselhafter Gegenspieler, dort das MEK, permanent auf stand by, hier das grelle Licht in der Tanke, dort das bedrohliche Dunkel der vermeintlichen Retter. Für hohe Sinnlichkeit und Intensität sorgt auch die Kamera durch ihr Wechselspiel aus Nähe (das Katz-und-Mausspiel & die Einsatzleitung) und Distanz (das MEK & weitgehend auch die Geiseln). Dazu diese beiden Hauptdarsteller, das verschlüsselte Spiel ihrer Figuren, Stauchs verdichtete Umgangssprache, die dem Zuschauer die Möglichkeiten gibt, das Szenario und das Spiel teilweise (!) zu verstehen – und dann dieses Timbre! „Wunderbare Stimme“, sagt der blinde Kollege im Funkhaus. Gemeint ist Riemanns Emma. Die von Ben Becker ist nicht weniger aufregend. Die Stimmen gehen ganz besonders ins Ohr, weil sie des Öfteren auch im Off zu hören sind.

Emma nach Mitternacht – Der Wolf und die sieben GeiselnFoto: SWR / Johannes Krieg
Man darf gespannt sein, wie es mit der Radio-Talkerin weitergeht. Die Überlegung, statt einer klassischen Psychotherapeutin, die den Patienten zum Hauptakteur macht und allenfalls lenkt, eine Medien-Psychologin ans Steuer zu lassen, ist von dem Gedanken her, dass ihr Narzissmus der Kommunikation eine Zweikampf-Schlagabtausch-Struktur gibt, nicht verkehrt.

Soundtrack: u.a. Gordon Lightfoot („If You Could Read My Mind“), Chris Isaak („Wicked Games“), Babyshambles („Dr. No“)

Das Gegenteil von erkenntnisreich und damit das Gegenteil von „Bloch“
„Der Wolf und die sieben Geiseln“ ist 70 Minuten lang ein gelungenes Thrillerdrama, ein Genre, das das deutsche Publikum offensichtlich gern sieht. Doch wie bei vielen Filmen über emotionale Ausnahmezustände kommt nach dem Ende der tote Punkt, eine gewisse Leere: Nicht nur die Heldin ist ausgepowert. Das Denken setzt langsam wieder ein. Auch beim Zuschauer. „Was habe ich hier eigentlich gesehen?“ Über das minutenlang spannende Katz-und-Mausspiel hinaus versucht man, dem Gesehenen einen „Sinn“ zu geben. Die Antwort, die die Heldin gibt, ist auch nicht unbedingt befriedigend. So ist es an einer Cliffhanger-liken Schlusspointe, durch die der Bogen zum seltsamen Beginn in Marokko gespannt wird, den Zuschauer das alles vergessen zu machen. Der Film ist anspruchsvolle Unterhaltung, keine Frage, die „Geschichte“ ist zugleich aber auch das Gegenteil von nachhaltig (der Erkenntnisgewinn ist für den Geiselnehmer deutlich größer als für den Zuschauer) und damit das Gegenteil von „Bloch“, als dessen Nachfolgeprojekt „Emma nach Mitternacht“ gilt. Die SWR/WDR-Reihe hat Fernsehgeschichte geschrieben, weil es ihr gelang, über viele Jahre Zuschauern das schwierige Themenfeld „Psychologie“ ohne Mord und Todschlag, aber auch ohne wohlfeile Moral und Didaktik, für ein Millionenpublikum attraktiv zu machen. Vielleicht ist es ja besonders clever, die Heldin der neuen Reihe gleich mit einem gewalthaltigen Paukenschlag-Plot einzuführen, in der Hoffnung, das angefixte, spannungsfixierte Publikum erinnere sich künftig an Katja Riemann in ihrer Rolle als Radio-Psychologin. Es wäre schön, wenn das so wäre. Und es wäre noch schöner, wenn Fernsehredakteure nicht kapitulieren würden vor der Allmacht des Krimihaften. Mit Riemann wäre da – wie einst mit Pfaff – etwas ganz anderes möglich. (Text-Stand: 30.3.2016)

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Fernsehfilm

SWR

Mit Katja Riemann, Ben Becker, Andreas Schmidt, Uwe Preuss, Mechthild Großmann, Floriane Daniel, Friederike Linke, Rüdiger Klink, Yung Ngo, Annina Hellenthal, Wolfgang Packhäuser, Moritz Leu, Katharina Matz

Kamera: Jürgen Carle

Szenenbild: Klaus-Peter Platten

Musik: Fabian Römer

Schnitt: Martina Butz

Produktionsfirma: Südwestrundfunk, Maran Film

Drehbuch: Wolfgang Stauch

Regie: Torsten C. Fischer

Quote: 3,96 Mio. Zuschauer (12,9% MA)

EA: 27.04.2016 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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