Die Schwestern Ella (Petra Schmidt-Schaller) und Johanna (Anna Schudt) sind Gen-Träger der unheilbaren Erbkrankheit Duchenne. Erst durch die Geburt von Johannas zweitem Kind, dem mittlerweile 12jährigen Lennart (Joshua van Dalsum), erfuhren die Frauen von dem Gen-Defekt. Ella und ihr Mann Marcus (Christian Erdmann) wollen nun auch unbedingt ein Kind. Aber das Risiko, die Krankheit weiterzugeben, ist hoch. Die junge Frau hat die Wahl zwischen der sogenannten „Schwangerschaft auf Probe“, die im Übertragungsfall mit einer Abtreibung beendet werden kann, und einem Krankheitsausschlussverfahren, das der Frau diese Tortur erspart: der Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der nur die Embryonen Verwendung finden, die keine Träger kranker Gene sind. Ausgerechnet durch die Neuregelung des Erbnachlasses, bei der Johanna um des Familienfriedens willen Ella entgegengekommen ist, finanziert diese das kostspielige medizinische Verfahren, schweigt sich darüber aber aus. Als die ältere Schwester erfährt, mit welcher Methode Ella ihr Kind bekommt, reagiert sie überaus hart und macht ihr ein schlechtes Gewissen: „Lenny zahlt den Preis dafür, dass du dir ein perfektes Kind kaufen kannst“, wirft sie Ella vor. „Lenny ist kein Fehler!“
Infos: Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist ein Verfahren, bei dem durch künstliche Befruchtung entstandene Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter auf Krankheiten untersucht werden. 2014 wurden in Deutschland 16 PIDs durchgeführt, aus welchen sieben Schwangerschaften entstanden.
Zwei Frauen, zwei Welten, zwei Haltungen. „Ellas Entscheidung“ ist einerseits ein Film, der angenehm nüchtern und unvoreingenommen den Zuschauer mit dem komplexen Thema PID und dessen moralisch-ethischen Implikationen vertraut macht, andererseits ist dieser Fernsehfilm aber auch ein Schwestern-Drama, bei dem offenbar lange zurückgehaltene Gefühle zwischen den sehr unterschiedlichen Frauen aufbrechen. Johanna ist die Bodenständige. Sie hat den Hof der Eltern übernommen und hat sich aus ihrer Sicht „aufgeopfert“, auch für ihre jüngere Schwester, die einen anderen Weg gehen, studieren wollte. Die Erbkrankheit ist für Johanna nie ein Thema gewesen. Die Bäuerin nimmt das Leben, wie es kommt. Ärmel aufkrempeln, es wird schon. Umso geschockter ist sie, als nun die Schwester sie mit ihrer Variante vom Kinderkriegen konfrontiert und auch Johannas pubertierende Tochter Antonia (Livia Walcher) wissen will, ob sie vielleicht auch Überträgerin ist. Außerdem hat sich Lennarts Gesundheitszustand verschlechtert; bei einem von Ella gut gemeinten Rollstuhlrennen verausgabt sich der Junge so sehr, dass sein Körper förmlich zusammenbricht. Johanna verpanzerte sich in ihrem Leid. Jetzt wollen es die Umstände, dass die größere Schwester nicht länger ihre Ohnmacht gegenüber der Krankheit verdrängen kann – und der Schmerz darüber, dass ihr Sohn nicht alt werden wird, bricht aus ihr heraus.
Autorin Kristin Derfler ging seit 2011 schwanger mit dem Thema PID. Sie hat die wichtigsten Thesen dazu im Film „untergebracht“, ohne dass „Ellas Entscheidung“ zum VHS-Kurs geworden wäre. Wenn man nicht das Glück hat, dass ein Sender einen Themenfilm mit einer Dokumentation ergänzt, muss man – will man seinem Thema gerecht werden – Fakten und wesentliche Standpunkte in die Geschichte einfließen lassen. Dass Ella Lehrerin ist, ihren Neffen unterrichtet und sich sehr liebevoll um ihn kümmert, also keine rationale, unsensible Ausbeuterin des medizinisch Möglichen ist, erweist sich als dramaturgisch klug. Da Lehrer bekannt sind für ihre Meinungsfreude und Moral, ist das Thema in diesem Milieu gut aufgehoben. Durch das Oberlehrerhafte, mit dem ein Kollege die Heldin auch bei anderen Fragen herausfordert, sind die PID-Infosätze („Das ist pure Selektion, gerade wir Deutschen sollten da besonders sensibel reagieren“) häufig mehr als nur das: In ihnen vermittelt sich auch die Außenseiterrolle, die die junge Lehrerin im Kollegium inne hat. Der Gegenwind, dem sich Ella wegen ihrer Entscheidung ausgesetzt sieht, verunsichert die junge Frau. „Und wenn alle es so machen wie du? Dann werden Kinder wie Lenny überhaupt keine Hilfe mehr bekommen, weil es dann heißt: Selber schuld, warum haben Sie es nicht vorher aussortiert?“ Besonders dieser Satz der Schwester wirkt bei ihr nach (und nicht nur bei ihr). Und sie gerät ins Zweifeln. Ist die Präimplantationsdiagnostik ein Eingriff in die Schöpfung? Hat sie kein Recht auf ein gesundes Kind? Hat sie ihre Schwester tatsächlich so schwer seelisch verletzt? Oder hat sie nicht einfach nur die Gnade der späten Geburt genutzt? Dann sind da noch die starken Gefühle, die auch sie für ihren Enkel hegt: „Ich könnte mir keinen besseren Sohn vorstellen“ – diesen Satz der Schwester kann sie als Lennarts Tante nur unterstreichen. Auch ein Dialog hängt ihr nach. Lennart: „Könntest du auch so ein Kind wie mich bekommen?“ Ella bejaht dies. „Aber so eins willst du nicht?“ Die Antwort bleibt sie dem Jungen schuldig.
Pro & contra: Gegner der PID warnen davor, dass wir als Folge der PID die Fähigkeit, behinderte Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren, verlieren könnten. Befürwortern der PID ist es vor allem wichtig, herauszustellen, dass es sich um Einzelfälle handelt, die umfassend geprüft werden.
So ist „Ellas Entscheidung“ ein gut recherchierter Spielfilm, der den schmalen Grat spürbar macht, auf dem die Protagonisten mit ihren verschiedenen Haltungen zum Thema wandeln. Die soziale Verortung der Geschichte ist stimmig, die Dualität der Schwestern (Kopf/Kultur vs. Bauch/Natur) ist einfach, wirkt aber nie simpel, insbesondere auch, weil die Besetzung mit Petra Schmidt-Schaller und Anna Schudt zutiefst glaubwürdig ist: Hier die Zerbrechliche, dort die Bodenständige. Und die Konflikte zwischen den beiden werden nie unnötig dramatisch hoch gekocht: ein zwei Sätze (der Älteren) genügen häufig, manchmal reicht ein Blick – und die Andere duckt sich weg. Stark ist die sinnliche Darstellung des Selektionsprozesses der gesunden Embryonen. Der Zuschauer wird quasi zum Augenzeugen. Diesem Blick durchs Mikroskop steht später eine Szene gegenüber, in der die Bäuerinnen-Schwester ein Kalb holt. Die vom Alltag in einem bayerischen Dorf geprägte Geschichte, die auch in den Nebenplots von den Sorgen und Nöten der kleinen Leute erzählt, davon, dass es überall viel zu tun gibt und das Geld knapp ist, inszeniert Grimme-Preisträgerin Brigitte Maria Bertele mit dem entsprechenden Gespür für einen ausschnitthaften Realismus, insgesamt auffallend unauffällig, ganz im Dienste der Handlung. Nichts lenkt ab von den Charakteren. Die Situationen schieben sich unaufgeregt ineinander. Alles geht seinen „natürlichen“ Gang.
Während Bertele in Filmen wie „Grenzgang“ oder den beiden „Louise-Boni“-Krimis ästhetisch brillante Stimmungen zauberte, erinnert ihr Erzählstil in „Ellas Entscheidung“ an ihre ersten Regiearbeiten, das Kriegsheimkehrerdrama „Nacht vor Augen“ & das Vergewaltigungsdrama „Der Brand“. Gibt es auch in diesem Primetime-Themenfilm im Gegensatz zu den beiden Arthaus-Themenfilmen mehr Informationsdialoge, so fällt doch die Beiläufigkeit auf, mit der diese Sätze gesprochen werden (auch ein Verdienst der Regie). Überhaupt: Auch in den Nebenrollen, ob Tina Engel, Gerhard Garbers oder Thomas Huber – kein falscher Ton. Joshua von Dalsum kommt gut klar mit seiner schwierigen Rolle als „Problemkind“ im Rollstuhl und Christian Erdmann empfiehlt sich nach „Nur eine Handvoll Leben“ und diesem Film als Gesicht für den ganz normalen Alltag und als der Mann an der Seite einer starken Frau. Petra Schmidt-Schaller scheint vom ZDF auserkoren worden zu sein als das neue Gesicht des Senders (am Montag). Nach Katharina Böhm und Silke Bodenbender ist nun die 35jährige gebürtige Magdeburgerin und Ex-„Tatort“-Actrice dran. Und keine Frage, „Ellas Entscheidung“ gehört zu ihren bisher reifsten Leistungen. (Text-Stand: 23.4.2016)