Es gibt diverse Anekdoten von Schauspielern, die derart in ihrer Rolle aufgegangen sind, dass sie nach Drehschluss erst mal eine Weile brauchten, bis sie in ihr eigentliches Ich zurückfanden. Eine ganz ähnliche und doch völlig andere Geschichte erzählen Ziska Riemann und ihre drei Koautorinnen mit „Electric Girl“: Die Hamburger Studentin Mia (Victoria Schulz) bekommt einen Job als Synchronsprecherin einer japanischen Zeichentrick-Serie, in der sich die Heldin, Kimiko, mit mächtigen Dämonen anlegt, die ihre Heimatstadt Tokio angreifen. Je intensiver sich Mia auf die Serie einlässt, desto mehr ergreift die Anime-Welt Besitz von ihr. Sie beginnt, sich wie Kimiko zu bewegen, legt sich eine ähnliche knallgelbe Jacke und eine blaue Perücke zu, benimmt sich immer seltsamer und ist schließlich überzeugt, dass sie erst Hamburg und dann die ganze Welt retten muss.
Foto: WDR / NiKo Film
Aus diesem Stoff hätte alles Mögliche werden können: eine Komödie ebenso wie ein Action-Film oder das Psychogramm einer jungen Frau, die nach und nach den Bezug zur Realität verliert. Riemann und ihre Mitschreiberinnen Dagmar Gabler, Angela Christlieb und Luci van Org haben sich für eine Kombination dieser drei Versionen und somit für den kompliziertesten Weg entschieden. Ihr Film ist eine über weite Strecken begeisternde und mit Poetry-Slam-Einlagen gewürzte Melange aus Drama, Anime und Superheldinnenkino, gekrönt vom energiegeladenen Spiel der Hauptdarstellerin. Der Reiz der Geschichte liegt in der schleichenden Eroberung der Realität durch die Fiktion. Da Riemann die Ereignisse konsequent aus Mias Sicht schildert, ist dieser Prozess völlig plausibel: Außer ihr sind alle anderen offenkundig blind für die Bedrohung; oder womöglich Teil der Verschwörung. Das ist natürlich ein klassisches Krankheitsbild. Riemann selbst spricht von einem „manischen Rausch“. Aber der Film stellt Mias Heldinnenstatus nicht in frage, zumal sie zwischendurch tatsächlich übermenschliche Fähigkeiten zu entwickeln scheint. Erst beim Finale, als sie sich in einem stillgelegten Kraftwerk den bösen Mächten entgegenstellt, drohen die Fiktion und somit auch die Heldin an der Realität zu zerschellen.
Selbst wenn die Geschichte nicht so ungewöhnlich wäre: Allein die Bildgestaltung durch Hannes Hubach ist preiswürdig. Der Kameramann gehört zu den Besten seines Fachs. Gemeinsam mit Regisseurin Christiane Balthasar, für die er oft arbeitet, hat er die regelmäßig herausragende Optik der ZDF-Reihe „Kommissarin Heller“ geprägt; für Riemanns Kinodebüt, das ähnlich wilde Teenagerdrama „Lollipop Monster“, ist er 2011 mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet worden. Auch „Electric Girl“ lebt nicht zuletzt von den kunterbunten Bildern: Hubach hat die Bar, in der Mia abends hinter der Theke steht, in ein farbenfrohes Licht getaucht, und ihre etwas chaotische Wohnung wirkt dank Einrichtung und Wandfarben ebenfalls sehr lebendig (Szenenbild: Christiane Krumwiede). Ähnliches Renommee wie Hubach genießt Ingo Ludwig Frenzel, der für den Film eine oft an Tangerine Dream erinnernde und perfekt passende Musik komponiert hat; auch ihm hat „Lollipop Monster“ mit dem Preis der deutschen Filmkritik eine Auszeichnung beschert.
Foto: WDR / NiKo Film
Die mit atmosphärischem Gespür gewählten Locations, wie etwa ein altes Kraftwerk, lassen Hamburg überlebensgroß wirken – und zugleich verwahrlost, dystopisch. Die Farbpalette unterstreicht diesen rohen, improvisierten Anschein: blaustichige Schatten und ins Gelb-Orange verschobene Lichter, die das digitale Rauschen hervorheben. Der Film macht sein augenscheinlich kleines Budget durch eine Reihe handgemachter Tricks und cleverer Kameraeinstellungen wett, die viel der Fantasie der Zuschauer überlassen. „Electric Girl“ ist ein Plädoyer dafür, einfach draufloszufilmen, ungeachtet des Budgets und mangelnder Ausrüstung, ohne eine falsch verstandene Idee von Professionalismus. (Tagesspiegel)
Der poppig inszenierte Film löst die Grenzen zwischen Realität und Wahn auch erzählerisch auf, indem er nahtlos in animierte Szenen wechselt und nicht nur von einer wahnhaften Realitätsverzerrung erzählt, sondern ebenso auch den Umgang der Gesellschaft mit dem „Nicht-Konformen“ befragt, die Abweichungen höchstenfalls duldet. (filmdienst)
„Hol’ mich zurück auf die Erde, ich treib’ davon. Tu etwas – SOS – dass ich wieder runterkomm“, reimt Mia zu Beginn des Films, als sie sich noch als Poetry-Slammerin betätigt. Riemann inszeniert dieses Wegdriften aus der Realität mit kurzen, surrealen Einschüben, wie wenn Mia Elektrizität sehen kann, Menschen um sie herum asynchron zu reden beginnen oder sie einem Mann in der U-Bahn ansieht, dass er gleich Selbstmord begehen will (…) „Electric Girl“ verliert zeitweise selbst ein bisschen den Boden unter den Füßen, weil es sich zu sehr auf die Verwandlung seiner Protagonistin konzentriert und ihre menschliche Umwelt vernachlässigt. Aber Ziska Riemanns Film strotzt vor Einfällen und Energie und Lust am Erzählen. (Die WELT)
Foto: WDR / NiKo Film
Gegenentwurf zu Mias Fröhlichkeit ist das Dasein ihres Nachbarn Kristof (Hans-Jochen Wagner), Typ arbeitsloser Arbeitsloser, der seine Tage rauchend und in offenbar stets dem selben Unterhemd am Fenster oder vor dem Fernseher verbringt; seine Parterrewohnung gleicht einer Höhle und riecht vermutlich auch so. Anfangs führen sich die beiden wie typische Nachbarschaftsantagonisten auf: Er revanchiert sich für den Putz, der von seiner Decke rieselt, während sie oben drüber tanzt, mit einer toten Ratte in ihrem Fahrradkorb; aber dann erkennt sie in Kristof den „Sidekick“ aus der Serie, einen Wassergeist, der Kimiko mit seinen speziellen Fähigkeiten im Kampf gegen die Elektromonster unterstützt. Entsprechende Zeichentrickszenen, die den typischen abgehackten Anime-Stil recht gut treffen, fügt Riemann immer wieder ein. Besonders beeindruckend sind die nahtlosen Übergänge, wenn die Bilder aus dem Manga zur Serie lebendig werden oder die tanzende Mia zur Anime-Figur Kimiko wird. Optisch wie akustisch arbeitet der Film zudem mehrfach mit Verfremdungen, die verdeutlichen, wie Mia immer mehr aus der Spur gerät. Diese Effekte haben zum Teil eine verblüffende Wirkung, wenn sie etwa beim Blick in den Spiegel feststellt, dass sich die Asynchronität ihrer Psyche in asynchronen Lippenbewegungen äußert.
Die Wahl der Hauptdarstellerin ist ohnehin ein Volltreffer, zumal Victoria Schulz, die hier des Öfteren verblüffend an die junge Franka Potente erinnert, Mias Metamorphose auf mitreißende Weise verkörpert. Eine Entdeckung ist sie allerdings nicht: Die Berlinerin ist bereits für ihre ersten Hauptrollen in den Dramen „Von jetzt an kein Zurück“ sowie „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (beide 2015) mit mehreren Nachwuchspreisen ausgezeichnet worden; im Fernsehen ist sie zuletzt sehr positiv in einer kleinen, aber feinen Rolle in „Ein paar Worte nach Mitternacht“ (ein „Tatort“ aus Berlin, 2020) aufgefallen. Großen Spaß macht „Electric Girl“ auch wegen des Ansatzes, den die Regisseurin gewählt hat: Der Film nimmt seine Hauptfigur absolut ernst. Mia ist im Grunde eine ganz normale junge Frau, die sich ein bisschen in den Toningenieur (Björn von der Wellen) verliebt und Ärger mit ihrer sehr erwachsenen älteren Schwester (Oona von Maydell) hat. Weil sie wegen der Weltrettung notgedrungen ihre Pflichten vernachlässigt, verliert sie erst den Synchronjob und verscherzt es sich dann auch noch mit ihrer Freundin und Barkollegin Lissy (Svenja Jung). Aber Einsamkeit ist die treueste Begleiterin aller Superheldinnen und -helden.