Einer wie Erika

Freistätter, Sägebrecht, Beimpold, Kämper, Bilgeri. Eines der letzten Tabu-Themen

Foto: SWR, ORF / Felipe Kolm
Foto Rainer Tittelbach

Erik Schinegger ist seit über 50 Jahren der Mann, der Weltmeisterin wurde. Bei seiner Geburt 1948 wurde der Österreicher als Mädchen eingestuft. Sein männliches Geschlechtsorgan wirkte verkümmert; dass Penis und Hoden bei ihm nach innen gewachsen waren, wurde von den Ärzten nicht erkannt. Und so wird aus ihm eine Erika – und in den 1960er Jahren die große Hoffnung des Skiverbands der Alpenrepublik. Der österreichische Spielfilm „Einer wie Erika“ (Zeitsprung Pictures, Lotus Film) erzählt diese Geschichte vom Aufstieg und vom Fall, von Intoleranz, Vorurteilen, von Scheinheiligkeit und vor allem von der Sprachlosigkeit der Gesellschaft. Der hoch emotionale Film, der fürs Kino produziert wurde, aber im Fernsehen besser platziert ist, rückt das Thema Intersexualität in den Fokus, besitzt also gesellschaftliche Relevanz, ein ernsthafter Beitrag zum aktuellen Gender-Diskurs ist er allerdings nicht.

Erik Schinegger ist seit über 50 Jahren der Mann, der Weltmeisterin wurde. Bei seiner Geburt 1948 wurde der Österreicher als Mädchen eingestuft. Sein männliches Geschlechtsorgan wirkte verkümmert; dass Penis und Hoden bei ihm nach innen gewachsen waren, wurde von den Ärzten nicht erkannt. Und so wird aus ihm eine Erika, als Kind ein Wildfang und später „a kräftiges Dirndl“. Als sich seine Figur in der Pubertät nicht weiblich formt und die Menstruation ausbleibt, hält er sich für lesbisch, weil er sich zu Mädchen hingezogen fühlt. Erika wird mit ihrer Verunsicherung allein gelassen; selbst ihre Mutter, die sich in späteren Jahren deutlich sensibler verhält, bringt es nicht über das Herz, mit ihrem Kind zu reden. Als Ventil für ihre Ängste diente Erika fortan das Skifahren. Wild und ungestüm raste sie die Pisten herunter – und wurde 1966 Weltmeisterin im Abfahrtslauf. Der Sport wurde ihre Flucht. Doch zwei Jahre später kam das böse Erwachen. Vor der Olympiade in Grenoble wurde der sogenannte „Sex-Test“ eingeführt. Das Ergebnis: Erika ist ein Mann. Die Folge: Ausschluss von der Nationalmannschaft. Außerdem dringt der Skiverband darauf, dass Erik Erika bleiben und sich „mit ein paar harmlosen Eingriffen“ zu einer „schönen Frau“ umwandeln lassen soll; so hofft man von den eigenen Versäumnissen ablenken zu können. Doch Erika ist biologisch und sexuell eindeutig ein Mann – und sie will dies künftig auch zu hundert Prozent leben.

Einer wie ErikaFoto: SWR, ORF / Felipe Kolm
Der Aufstieg: sich mit fremden Federn schmücken. In der Weltmeisterin ERIKA (Markus Freistätter) sieht der Bürgermeister (Franz Weichenberger) jede Menge Chancen fürs Dorf. Damit sie nicht weggeht, überschreibt die Gemeinde ihr öffentlichkeitswirksam ein Grundstück, das man ERIK später wieder wegnimmt.

Der österreichische Spielfilm „Einer wie Erika“ (Titel in seiner Heimat: „Erik & Erika“), produziert von der auf zeitgeschichtliche Stoffe spezialisierten Kölner Firma Zeitsprung Pictures, erzählt die Geschichte von Erika, die mit 20 Jahren zu Erik wird. Davor erlebt der Mann aus dem Kärntner Bauerndorf als Erika Schinegger einen phänomenalen Triumph als gefeierter Skisport-Star, der quasi aus dem Nichts die Weltspitze erobert. So jedenfalls erzählt es Reinhold Bilgeri („Landkrimi – Alles Fleisch ist Gras“) in seinem Kinofilm, der bei seiner ORF-Premiere in diesem Jahr einen Marktanteil von satten 21 Prozent erzielte. Vor der operativen Geschlechtsanpassung muss Erika allerdings noch durch die Hölle. In einem Kloster, abgeschottet von der Außenwelt, wird er lange im Unklaren gelassen über die „Lage“ und ist er zur Untätigkeit verdammt. Bei Erikas enormen Bewegungsdrang ist das die reinste Folter. Regisseur Bilgeri, der im Mittelteil den Film als Drama der geschlossenen Räume und gestrengen Autoritäten inszeniert, findet vor allem in den ersten 30 Minuten eine adäquate, visuell kraftvolle Umsetzung für die massenhaften Fluchtbewegungen dieses muskulösen Mädchens. „Immer rennt sie“, sagt die Mutter. Und später heißt es dann: „Schön is sie net, aber schnell is sie halt!“ Im filmischen Schnelldurchlauf vermitteln Bilgeri und Autor Dirk Kämper einen guten, sinnlichen Eindruck vom Wesen dieses Helden, der anfangs eine tragische Heldin ist. Die Irritationen über die eigene Sexualität wird nicht ausgespart, aber eben so gezeigt, wie es Erika offenbar erlebt hat: Wahrnehmen, verdrängen, rauf auf die Ski!

„Einer wie Erika“ erzählt die ersten 75 Minuten als Rückblende. Dann ist aus Erika wie schon in der ersten Szene Erik geworden, der sich mit seinem Porsche seine Männlichkeit beweisen muss. Er kehrt im Film wie im Leben in sein Heimatdorf zurück, seinen Traum, für die österreichische Männermannschaft Medaillen zu holen, muss er allerdings aufgeben, obwohl er es sportlich hätte packen können. Der Film zeigt auf, wo die Gesellschaft vor 50 Jahren stand und wirft – im Vorbeigehen – kein gutes Licht auf Institutionen wie den Skiverband der Alpenrepublik, auf Ärzte, Sponsoren oder Lokalpolitiker. Dramaturgisch ist das Ganze eher Hausmannskost. Den dominanten Mannsbildern (überzeugend besetzt: Gerhard Liebmann, Cornelius Obonya, August Schmölzer, Johannes Seilern) sind zwei weibliche „Retterinnen“ (Marianne Sägebrecht, Ulrike Beimpold) zur Seite gestellt und ein Arzt (Harald Schrott) übernimmt die Stimme der Vernunft. Auch die Entscheidung für die sexuell-biologische Neigung gegen den gesellschaftlichen Druck wird narrativ wenig einfallsreich gelöst: Die sexy-Jugendfreundin (Lili Epply) muss es richten. Insgesamt halten sich die Macher sehr genau an das Drehbuch von Schineggers Leben. Ein bisschen mehr eigene Visionen hätten diesem Biopic, gerade auch, weil er ein Kinofilm ist, nicht geschadet. Und so sprengt er denn kaum den Rahmen des Historischen. Er erzählt von Intoleranz, Vorurteilen, von Scheinheiligkeit und von der Sprachlosigkeit der Gesellschaft – und er rückt ein Thema in den Fokus, Intersexualität, welches auch heute noch als eines der letzten Tabu-Thema gelten darf. So ist „Einer wie Erika“ zwar ein gesellschaftlich relevanter, hoch emotionaler Film geworden, aber ein ernsthafter Beitrag zum aktuellen Gender-Diskurs ist er nicht.

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Kinofilm

ORF, SWR

Mit Markus Freistätter, Marianne Sägebrecht, Ulrike Beimpold, Gerhard Liebmann, Birgit Melcher, Cornelius Obonya, Harald Schrott, August Schmölzer, Lili Epply, Johannes Seilern, Rainer Wöss, Hary Prinz

Kamera: Carsten Thiele

Szenenbild: Bertram Reiter

Kostüm: Brigitta Fink

Schnitt: Karen Hartusch

Musik: Raimund Hepp

Redaktion: Michael Schmidl (SWR)

Produktionsfirma: Lotus Film, Zeitsprung Pictures

Produktion: Tommy Pridnig, Peter Wirthensohn, Michael Souvignier, Till Derenbach

Drehbuch: Dirk Kämper

Regie: Reinhold Bilgeri

Quote: 3,12 Mio. Zuschauer (10% MA)

EA: 25.11.2020 20:15 Uhr | ARD

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