Einer geht noch

Gossger, ­Gingeleit, Kriener, Jeltsch, Naefe. Frauen, die Provinz & das Kegeln

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Foto Rainer Tittelbach

Die Männer von Lotheim sind gefrustet, die größte Firma des Ortes macht dicht. Wer hat da noch Lust, beim alljährlichen “Alemannen-Cup” mitzukegeln! Das bringt die Frauen auf den Plan, sich zum Finale nach Berlin zu kämpfen. Sport als Selbstfindung, Provinz als Chance, Freundschaft als Lebenselixier, erzählt in einer Tonlage zwischen Schluchzen & Schmunzeln – das verknüpfen die Vivian Naefe und Autor Christian Jeltsch mit leichter Hand im Stile einer klassischen “Short Cuts”-Dramaturgie, bei denen es quasi keine Nebenfiguren gibt. Clever besetzt, flüssig erzählt, menschlich statt menschelnd. Dafür gab es den Grimme-Preis!

Ein Kaff im Ruhrgebiet steht Kopf. Erstmals in der traditionsreichen Geschichte des heimischen Kegelvereins vertreten die Frauen die Farben von “Gut Holz Lotheim”. Und man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass bei diesen Powerfrauen mehr drin’ ist als ein lauwarmes “dabei sein ist alles”. Sport als Selbstfindung, Provinz als Chance, Freundschaft als Lebenselixier, erzählt in einer Tonlage zwischen Schluchzen und Schmunzeln – das verknüpfen die Regisseurin Vivian Naefe und Autor Christian Jeltsch mit leichter Hand im Stile einer klassischen “Short Cuts”-Dramaturgie. “Einer geht noch” ist mehr als ein nur launiger Film über einen Sport, der als Freizeitspaß des deutschen Spießers gilt.

Die Männer von Lotheim sind gefrustet, die größte Firma des Ortes macht dicht. Wer hat da noch Lust, beim alljährlichen “Alemannen-Cup” mitzukegeln! Das bringt die Frauen auf den Plan, sich zum Finale nach Berlin zu kämpfen. Allen voran die 19-jährige Greta, die als “talentiertes Dickerchen” belächelte ewige Ersatzspielerin, appelliert an den Stolz der Kegelschwestern. Sie wartet schon lange darauf, dass bei ihr endlich der Knoten platzt. In jeder Hinsicht. Und so beginnt sie mit der Emanzipation vom übermächtigen vermeintlich falschen “Vater”, macht sich auf die Suche nach dem richtigen, sehnt sich ihrer Entjungferung entgegen und wünscht sich nichts sehnlicher, als geliebt und eine erfolgreiche Keglerin zu werden. Bei Trainer Heinzi lernt sie, worauf es ankommt: “Die eigene Melodie finden, ganz bei sich sein – darum geht es!” Der Rest ergibt sich wie von selbst.

Kritik: “Einer geht noch”
Vom häßlichen Entlein zur Retterin der Dorf-Ehre entwickelte sich die Heldin (zunächst die klassische Anti-Heldin) in dem ARD-Fernsehfilm “Einer geht noch”. Diesen Weg ging man als Zuschauer gerne mit, umso mehr, als Autor Christian Jeltsch und Regisseurin Vivian Naefe von Anfang an ein liebenswertes Bild ihrer anfangs glück- und mutlosen Hauptfigur zeichneten. Sie verzichteten darauf, der Wirkung willen die sonst so beliebten Gegensätze besonders stark zu betonen. Selbst “Nebenfiguren” wurden nicht karikiert, sie wurden gezeigt mit ihren Lebenslügen, ihren Marotten und ihren kleinen Träumen vom Glück. Das Schöne an diesem Film aus der nordrheinwestfälischen Provinz war vor allem aber, dass es keine klassischen Nebenfiguren gab, die nur als Funktionen der Hauptfigur(en) in Erscheinung traten. Ob nun die Damen des Kegelvereins, die den schlappen Männern zeigten, wie man wieder neuen Mut für sein Leben gewinnt, ob der Vater der Heldin mit seiner Politiker-Mentalität oder die toughe Polizistin, die ihren eigenen Mann anzeigt: alle haben zumindest zwei Seiten. Wer die Tochter brüllend maßregelt, kann dennoch einen weichen Kern haben. Wer mit dem Dorf-Bullen schläft, kann dennoch den Ehemann lieben. Wer immer nur die Coole raushängen lässt, kann dennoch im Innern ihres Herzen romantisch veranlagt sein. Diese Mehrdimensionalität sorgte für die schönsten Momente in einer Geschichte, die trotz der vielen Figuren nie ihre dramaturgische Linie verlor. Wunderbar auch die Besetzung: ein ausgewogener Mix aus neuen jungen Gesichtern und den immer guten Westfalen-Schnauzen Ulrike Kriener oder Dieter Pfaff. Erfrischend anders!

Vivian Naefe wollte schon immer mal einen Film über einen Sport machen. “Sport ist ja immer eine Metapher für Selbstbewusstsein finden, sich beweisen, sein Leben leben.” Das Glück finden im Fallen der Kegel, “alle Neune”, die absolute Erfüllung. Mit dem Volkssport, dem in Deutschland rund 23 Millionen Menschen anhängen, hatte die 44-jährige Münchnerin bislang wenig am Hut. “Ich habe aber schnell gemerkt, dass Kegeln nicht nur Bier saufen ist, sondern ein schwieriger, ernst zu nehmender Sport.”

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Dieter Pfaff darf „Einer geht noch“ ausnahmsweise mal ein echtes Ekelpaket spielen. Entdeckung: Stephanie Gossger

“Man muss beliebt sein bei den Leuten”, der Satz aus dem Mund von Gretas “Vater” spricht Bände. Und dass die Story dieses Fernsehfilms vom Bayerischen Rundfunk in Nordrhein-Westfalen angesiedelt sein musste, war der Regisseurin von vornherein klar. “Diese Kegelei hat dort eine größere Bedeutung als beispielsweise im Fränkischen”, so Naefe, “und der industrielle Background, der Humor der Leute und die Sprache passen da einfach besser hin.” Dazu holte sie dann mit Dieter Pfaff, Ulrike Kriener und Leonard Lansink die markanten Nasen für diese Region vor die Kamera. Die Kegel-Crew besetzte sie mit unbekannten, nicht minder überzeugenden Gesichtern wie Stephanie Gossger oder Maren Gingeleit.

Eindimensionale Charaktere sind Vivian Naefe ein Graus. “Ich habe alle Figuren gern in dem Film und da versuche ich natürlich, jede einzelne so menschlich wie möglich zu zeichnen.” Ob sie eine weibliche Sicht habe? “Ich denke, dass ich Frauen gut kenne und Männer vielleicht etwas weicher erzähle als ein männlicher Regisseur.” In “Einer geht noch” muss sie vor allem Frauenfreundschaften ins rechte Licht rücken. Das, so glaubt sie, mache sie schon ziemlich anders als ihre Kollegen: “Männer inszenieren bei Freundschaften zwischen Frauen immer so was Süßliches, da umarmen sich die Frauen ständig und küssen sich.” Naefe mag es da schon tougher – Lästereien über Männer inklusive… “Leicht wird es der Film nicht haben im Fernsehen”, befürchtet die Regisseurin, die zur Zeit die Biographie des Down-Syndrom-erkrankten Bobby Brederlow (aus “Liebe und andere Katastrophen”) verfilmt. “Einer geht noch” beginnt langsam, hat viele Figuren, spielt in der Provinz und kommt für ARD-Verhältnisse recht jung daher. Kein Film auf Nummer sicher. (Text-Stand: 24.11.2000)

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Fernsehfilm

Arte, BR, SWR

Mit Stephanie Gossger, ­Maren Gingeleit, Ulrike Kriener, Dieter Pfaff, Britta Dirks, Caroline Schreiber, Leonard Lansink, Christian Redl

Kamera: Peter Döttling

Szenenbild: Egon Strasser

Kostüm: Gabriela Reumer

Schnitt: Hansjörg Weißbrich

Musik: Dieter Schleip

Produktionsfirma: Multimedia Film- und Fernsehproduktion

Drehbuch: Christian Jeltsch

Regie: Vivian Naefe

EA: 24.11.2000 20:45 Uhr | Arte

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