Ein Teil von uns

Jutta Hoffmann, Hobmeier, Bernstorff, Weegmann. Liebe, Scham, Verantwortung

Foto: BR / Bernd Schuller
Foto Rainer Tittelbach

Helfen oder krepieren lassen? Eine Frau, Mitte 30, die endlich ihr Leben in den Griff bekommen hat, wird das Dilemma ihrer Familiengeschichte nicht los: Ihre Mutter ist psychisch krank, Alkoholikerin und jetzt auch noch obdachlos. Kein anderer will ihr helfen, also muss die Tochter ran, ein Muster seit ihrer Kindheit. So ist sie bald wieder drinnen in der vertrauten Spirale aus Liebe und Hass, Verantwortung, Schuld und Scham – und bald selbst ganz unten… „Ein Teil von uns“ ist ein überragender Themenfilm, über deren gesellschaftlich relevante Geschichte sich eine zeitlose Gültigkeit und Wahrheit legt. Das Fundament dafür sind ein gut recherchiertes, konzeptionell kluges Drehbuch, eine kongeniale Regie mit dem Blick für (erzählende) Bilder & zwei große Schauspieler, die einen in ihren Bann ziehen.

Nadja (Brigitte Hobmeier) traut ihren Augen nicht. Ihre Mutter Irene (Jutta Hoffmann) sitzt bei der Hochzeit ihres jüngeren Bruders Micki (Volker Bruch) unter den Hochzeitsgästen und stört wenig später die Feierlichkeiten. Wie konnte die psychisch kranke, inzwischen obdachlose Frau das nur schaffen? Nadja schwant Fürchterliches. Sie hat vor über einem Jahr ganz bewusst den Kontakt zu ihr abgebrochen. Sie wollte endlich ihr eigenes Leben leben, hat sich eine neue Wohnung gesucht, einen erfüllenden Job in einer Kita gefunden und mit Jan (Nicholas Reinke) einen achtsamen Partner, der es ernst meint. Das steht nun wieder auf der Kippe. Denn alles scheint wieder von vorne loszugehen. Irene, die sich „Wanda“ nennt, hat ihren Wohnplatz verloren, randaliert nächtens vor dem Haus ihrer Tochter, wankt orientierungslos durch die Münchner Obdachlosenszene. „Sie muss runter von der Straße“, rät man der Tochter – und plötzlich steht Nadja wieder voll in der Verantwortung: Diese Frau stinkt, ihre Beine sind eine einzige offene Wunde, sie säuft, sie lallt unflätiges Zeug, sie ist unberechenbar, ja sie schlägt sie sogar – aber was soll Nadja tun, diese Frau ist nun mal ihre Mutter. „Ich kann sie nicht einfach sterben lassen.“ Und mit Hilfe kann sie auch nicht rechnen. Muttis Liebling, Micki, hält sich seit jeher aus allem raus, will, wie er sagt, „nur ein schönes Leben haben“. Und Nadjas Freund? Der weiß lange nichts von „Wanda“, wundert sich nur, dass Nadja ihn „eine Klette“ nennt. Sie schämt sich, ihm die Wahrheit zu sagen.

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Ihre Mutter Irene (Jutta Hoffmann) vereinnahmt Nadja (Jutta Hoffmann) nicht nur, sondern stört auch ihre Kreise – und so steht diese bald wieder ohne Arbeit da. „Ein Teil von uns“ von Esther Bernstorff und Nicole Weegmann

Was diese Scham angeht, konnte Autorin Esther Bernstorff („4 Könige“) bei den Recherchen zu dem ARD-Fernsehfilm „Ein Teil von uns“ ähnliche Erfahrungen machen. Eindrücke und Informationen holte sie sich direkt in der Szene und den involvierten sozialen Einrichtungen in Berlin und auch in München, wo die Geschichte spielt und wo es schwerer war, „weil die Stadt gern von sich behauptet, dass sie keine Probleme mit Obdachlosigkeit habe“, so Bernstorff. Kontakt zu Angehörigen von Obdachlosen aufzunehmen, war hingegen unmöglich. „Diese Menschen fühlen sich offensichtlich sehr stigmatisiert und kämpfen mit Schuldgefühlen“, so die Autorin, „und es gibt wenig Verständnis für ihre Situation.“ Es ist eine besondere Stärke des Drehbuchs, dass Bernstorff darauf verzichtet, die Stigmatisierung zu zeigen; so umgeht der Film jede wohlfeile Didaktik. Die Autorin geht einen feinsinnigeren Weg: Sie konzentriert sich ganz auf das Handeln der Tochter, welches letztlich auch eine Reaktion auf das ist, was sie über die Jahre von außen erfahren musste. Um Demütigungen zu entgehen, hält sie sich lieber bedeckt, schweigt, macht die Sache mit sich selbst aus. Hinzu kommt, dass jene Nadja nicht raus kann aus ihrer Haut – sprich: ihre Rolle, die ihr schon als Kind in der Familie zugedacht war, nicht ablegen kann. Erschwert werden ihre gelegentlichen Emanzipationsversuche dadurch, dass für ihren Bruder das Gleiche gilt: Er hat sich eingerichtet in der bequemen Rolle des „Kleinen“, der beschützt und von allem Unangenehmen möglichst ferngehalten wird. Um dies deutlich zu machen bedarf es nicht vieler Worte, nur eines kurzen Gesprächs zwischen den beiden – denn das Bild Micki auf seiner geliebten Schaukel als Kind und als Erwachsener sagt mehr als die berühmten 1000 Worte.

Wenn der Kritiker in seinem Elfenbeinturm von „Authentizität“ spricht, ist das immer so eine Sache. Im Falle von „Ein Teil von uns“ könnte man aber fast die Anführungszeichen streichen – zunächst, was die Sätze und Dialogwechsel der Mutter angeht: Sie entspringen ganz der abstrusen Logik des Deliriums, sie sind sprunghaft, nicht logisch, eher verwaschen, gelegentlich überzogen laut, aggressiv und beleidigend. Es ist eine wirre Gedankenwelt, in der diese Frau lebt. Und manchmal melden sich sogar Gefühle aus dem Grund des Vergessens („Ich weiß doch immer, wo Ihr seid, Ihr seid doch meine Kinder“). In Verbindung mit ihren psychotischen Schüben ist es unmöglich für die Tochter, dorthin vorzudringen. Die Kombination von psychischer Erkrankung, von Alkoholismus und partieller Obdachlosigkeit macht die Geschichte besonders stimmig; sie ist bei aller „Authentizität“ eben nicht nur ein Fallbeispiel, sondern auch eine richtig gute, an die Nieren gehende Geschichte. Den Film aus der Tochter-Perspektive zu erzählen, erweitert die Handlung zu einem Familiendrama, „einer Geschichte“, so Bernstorff, „die mit Liebe, Scham, Schuldgefühlen, Wut und Hilflosigkeit zu tun hat“. Hinzu kommt, dass diese Fokussierung auf die Tochter den Zugang, die Identifikation des Zuschauers, erleichtern dürfte. Aber auch die Mutter, die ihre Tochter beleidigt („Hau doch ab, du alte Fotze“) und aussaugt wie ein Vampir, wird von Dramaturgie und Regie nicht zur Buhfrau gemacht. Auch das hat mit dem Krankheitsbild zu tun. Und so hat man zumindest Mitleid mit dieser Person, die krank war schon bevor sie dem Alkohol verfiel, die in eine Spirale nach ganz unten geraten ist und nicht immer weiß, was sie tut.

Ein Teil von unsFoto: BR / Bernd Schuller
Der Winter steht ins Haus. Mutter muss von der Straße. Nur selten hat Irene lichte Momente. Selbst bei der Zimmersuche fällt sie irgendwann immer aus der Rolle.

Jutta Hoffmann, die nach ihrem Abgang als „Polizeiruf“-Kommissarin im Jahre 2002 nur noch zwei, drei kleine Filmrollen übernahm, darf in dieser BR-Produktion noch einmal beweisen, was für eine große Schauspielerin sie ist. Die Krankheit scheint in jeder Pore zu stecken, ist in jeder Geste spürbar, die Alkoholsucht legt sich über jedes Wort – und doch bleibt da hinter der Blutsaugerin ein Mensch, der einen verstehen lässt, dass die Tochter ihn nicht sterben lassen kann. Hoffmann gibt ihrer „Wanda“ (dieser Name ist offenbar eine Anlehnung an eben jene letzte große Rolle, ihre „Polizeiruf“-Kommissarin) viele Gesichter: ein böses, ein krankes, ein sanftes, ein verspieltes, sogar eines, das sich daran erinnert, dass sie eine Frau ist (beim Tanzen mit Nadjas Freund). Diese nuancenreiche Anlage der Rolle hat neben dem großartigen Drehbuch selbstredend auch mit Regisseurin Nicole Weegmann zu tun, Expertin für brisante gesellschaftspolitische Themenfilme wie „Ihr könnt euch niemals sicher sein“ oder „Mobbing“ und vielschichtige Familienaufstellungsdramen („Es ist alles in Ordnung“). Sie lässt sich nicht billig von Themen vereinnahmen, sondern legt stets großen Wert auf eine stofflich adäquate und filmästhetisch attraktive Umsetzung; dafür spricht die Verpflichtung von Bildgestalter Alexander Fischerkoesen. Doch im Zentrum stehen bei ihr immer die Schauspieler. Für „Ein Teil von uns“ ist ihr ein weiterer Casting-Coup gelungen: Brigitte Hobmeier.

Diese klassische Schönheit mit ihrem Porzellan-Teint, den hellroten Haaren, den wallenden Locken und ihrer engelsgleichen Erscheinung, ist allein schon ikonografisch die perfekte Besetzung. Im Film nimmt Hobmeier den Zuschauer an die Hand (so wie sie ihn in „Die Hebamme“ ins Tirol des frühen 19. Jahrhunderts entführte), um ihn in eine Welt zu führen, vor der wir im Alltag gern die Augen verschließen. Ihre Figur besitzt nicht nur eine dichte, spannende Lebensgeschichte, die in enger Beziehung zu ihrer kranken Mutter steht, sondern ist auch – für sich betrachtet – eine  psychologisch absolut überzeugende und in ihrer Vielschichtigkeit faszinierende Charakterstudie einer ewig Helfenden, die sich verantwortlich fühlt, und weil sich nie ein anderer findet, der ihr hilft, muss sie es immer selber machen. Das Muster funktionierte so schon in ihrer Jugend: Nach der Scheidung ihrer Eltern hätte sie auch wie ihr Bruder bei ihrem Vater leben können, doch sie entschied sich solidarisch für die Mutter („Einer muss sich doch um meine Mutter kümmern“). Diese „Nächstenliebe“ gerät schließlich zum Bumerang. Als Nadja die übrige Familie in die Pflicht nehmen will, redet sich ihr Vater nicht nur aus der Verantwortung („Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich“), sondern schießt auch noch gegen die eigene Tochter: „Du hast dich früher schon immer mit ihr verbündet, jetzt musst du dich auch kümmern.“ Dass Nadja ob dieser Unverschämtheit nicht augenblicklich explodiert und zurückschießt (das muss die zweite Frau des Vaters tun), entspricht ihrer Mentalität, aber auch ihrer Situation: Jetzt ist auch sie ganz unten.

Ein Teil von unsFoto: BR / Bernd Schuller
Weil sich Nadja (Hobmeier) für ihre Familienverhältnisse schämt, verschweigt sie ihrem Freund (Nicholas Reinke) lange Zeit den Grund für ihr seltsames Verhalten.

Hobmeier verkörpert diesen Wandel im wahrsten Sinne des Wortes. Sieht man ihre Nadja zunächst noch bei der Arbeit in der Kita, wo man sie mit ihrem strahlenden Lächeln und der Lust am spielerischen Miteinander als eine absolut hilfsbereite, warmherzige, ausgeglichene Person kennenlernt, erstarren ihre Gesichtszüge, als sie ihre Mutter während der Hochzeit entdeckt. Ab jetzt ist nichts mehr wie es war – in Hobmeiers Gesicht. Auf ihm spielt sich der Ernst der Lage ab. Und irgendwann ist das „ganz unten“ erreicht. Und es ist wieder ein Bild, das diesen Zustand sehr treffend verdeutlicht: Nadja liegt in der Badewanne, ihr Blick starr und leer, ihr Körper regungslos, ganz ähnlich wie einst die Mutter, nachdem die Tochter sie von der Straße geholt hat. Das Bemerkenswerte ist, dass Hobmeiers Physiognomie, ihr Spiel, das rund 80 Filmminuten reduziert wird auf einen schmalen Bereich menschlicher Emotionen, bei aller Strenge & Verzweiflung lebendig bleibt und voller Zwischentöne steckt. Das und die zahlreichen Gesichter, die Jutta Hoffmann ihrer Kranken verleiht, schlagen entscheidend auf den Film zurück – und so legt sich über die gesellschaftlich relevante Geschichte von „Ein Teil von uns“ auch eine zeitlose Gültigkeit und Wahrheit. (Text-Stand: 19.10.2016)

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Fernsehfilm

BR

Mit Brigitte Hobmeier, Jutta Hoffmann, Nicholas Reinke, Volker Bruch, Jennifer Frank, André Jung, Lena Stolze, Matthias Lier, Gisela Aderhold, Katja Bürkle

Kamera: Alexander Fischerkoesen

Szenenbild: Christine Caspari

Kostüm: Walter Schwarzmeier

Schnitt: Andrea Mertens

Musik: Florian van Volxem, Sven Rossenbach

Soundtrack: Boney M („Sunny“), Marvin Gaye & Tammi Terrell („Ain’t no mountain high enough“)

Produktionsfirma: Constantin Television

Produktion: Kerstin Schmidbauer, Marc Junker

Drehbuch: Esther Bernstorff

Regie: Nicole Weegmann

Quote: 3,79 Mio. Zuschauer (12,2% MA)

EA: 16.11.2016 20:15 Uhr | ARD

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