Ein Sommer in Masuren

Christina Große spielt das Asperger-Syndrom: Ein Liebesfilm voller V-Effekte

Foto: ZDF / Christine Pausch
Foto Rainer Tittelbach

Die Hauptfigur in „Ein Sommer in Masuren“ hat das Asperger-Syndrom. Zahlen & Strukturen sind ihr Rettungsanker. Sie ist hochintelligent, aber der Umgang mit anderen Menschen scheitert immer wieder daran, dass sie Metaphern wörtlich nimmt und keine Ironie versteht. Fassungslos reagieren die Kowalskis in Masuren auf den Gast aus Deutschland, der angereist ist, um das Erbe ihres Vaters anzutreten… Sieht man von der rein deutschen Besetzung ab, ist der Film ein „Herzkino“-Highlight. Natur wird nicht ausgestellt, sie ist Teil der Geschichte. Das Asperger-Syndrom bringt über die Dialoge viel Witz in den Film, der die romantische Liebe sogar thematisiert. Und Christina Große hat sich die Rolle wunderbar angeeignet.

Hat diese Frau nicht alle Tassen im Schrank?
Sabine Waldmann ist anders als die anderen. Sie hat das Asperger-Syndrom. Zahlen und Strukturen sind ihr Rettungsanker. Sie ist hochintelligent, aber beim Umgang mit anderen Menschen hat sie Probleme. Die Mathematik kennt keine Gefühle, ja nicht einmal den Blick fürs Schöne. Und auch Witz und Ironie versteht sie nicht. Entsprechend fassungslos reagieren die Kowalskis in Masuren auf den Gast aus Deutschland, der angereist ist, um das Erbe ihres Vaters anzutreten. Der hat in den Bauernhof jener polnischen Familie investiert, weil er große Zuneigung zu Dorota, die ihn in Deutschland gepflegt hat, verspürte und weil er diese Landschaft geliebt hat. Für eine Frau wie Sabine ist das schwer nachvollziehbar. Die Lage entspannt sich ein wenig, als die Kowalskis von der Fehlfunktion jener Frau erfahren und sich Sabine nach und nach in der fremden Umgebung etwas sicherer fühlt. Jetzt kann sie sogar auch schon mal lächeln. Und als sie bei einem Fest den Satz „Wodka ist nichts anderes als Wasser“ wörtlich nimmt, wird sie sogar richtig lustig, tanzt Polka und schläft in den Armen des Jungbauern Marek ein, der ihr – offenbar bisher vergeblich – dieses besondere Fleckchen Erde emotional näher bringen wollte. Irgendwas ist passiert, aber Sabine, die sehr gut Bescheid weiß über das Asperger Syndrom, ist sich sicher: „Ich kann nicht lieben“.

Ein Sommer in MasurenFoto: ZDF / Christine Pausch
Der Vermittler. Unterm masurischen Sternenhimmel erzählt Sabine (Große) dem verständnisvollen Nachbarn der Kowalskis (Hollinderbäumer) von ihrem Problem.

Ein Film, gegen den man Vorbehalte haben kann
Die Idee, das romantische Genre mit besonderen Charakter-Bildern zu beleben und somit die Hürde fürs Happy End zu erhöhen, ist nicht nur für Liebhaber anspruchsvoller Filmromantik ein bemerkenswerter Schachzug. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass das Asperger-Syndrom in „Ein Sommer in Masuren“ vor allem funktional – sprich: dramaturgisch – eingesetzt wird und es bestenfalls um eine vage Sensibilisierung für diese Fehlfunktion geht; zum Thema wird sie allenfalls indirekt. Das beeinträchtigt allerdings nicht allzu sehr das Vergnügen, das man an diesem Liebesfilm haben kann. Irritierender dagegen ist in diesem 15. Beitrag zur „Sommer in“-Reihe des ZDF die durchgängige deutsche Besetzung der Schauspieler. Was in anderen Filmen der mit Abstand konzeptionell interessantesten und auch filmisch oft sehr reizvollen „Herzkino“-Reihe zur „Glaubwürdigkeit“ beigetragen hat, die Besetzung des männlichen Liebesobjekts mit einem ausländischen Schauspieler (u.a. Alexis Georgoulis, Ray Fearon, Wladimir Tarasjanz, Paulo Pires, Jean-Yves Berteloot) – auf dieses Mittel zur „Authentizitätssteigerung“ verzichten die Macher bei diesem Film. Eigentlich schade. Gab es denn keinen polnischen Schauspieler als Mann zum Verlieben? Stefan Murr („Komödienstadl“), einen ausgewiesenen Bayern-Darsteller mit ebensolchem erkennbaren Zungenschlag, als „Liebhaber“ zu besetzen, ist ebenso gewagt wie die Urbayerin Marlene Morreis als dessen Ex (in einer allerdings nur kleinen Rolle). Und weil auch die anderen Kowalskis deutsch, allerdings mit weniger bekannten Gesichtern, besetzt sind, kann sich so gut wie nichts von der verbindlichen polnischen Mentalität vermitteln (auch wenn es Anna von Berg & Dietrich Hollinderbäumer versuchen). So müssen Landschaft, Hauptfigur, die wunderbare Christina Große und gelegentlich die Folklore allerhand „ausgleichen“.

Ein Sommer in MasurenFoto: ZDF / Christine Pausch
Rivalinnen? Die Macher taten gut daran, diesen Scheinkonflikt vieler Liebesmelos nicht hochzuspielen. Die Figuren haben relevantere Probleme. Große & Morreis

Ein Liebesfilm, den man ohne Reue mögen kann
„Ein Sommer in Masuren“ ergeht sich nicht im Ausstellen der polnischen Naturschönheit. Die Geschichte und die Landschaft sind enger miteinander verbunden als in den vielen Landschaftstapetenfilmen der Rademann-Spiehs-Jurgan-Ära oder in den (oft ausgestellt) künstlichen Inga-Lindström-Sehnsuchtsszenarien. Und auch die Geschichte mit der polnischen Pflegekraft ist nicht ganz so an den Haaren herbeigezogen, wie das sonst in diesem Genre üblich ist. Der größte Reiz dieses Films aber liegt in den Dialogen. Denn die Fehlfunktion der Heldin, die alles wörtlich und furchtbar ernst nimmt, sorgt für permanenten Witz, der sich konsequent durch den gesamten Film zieht. Marek: „Die Liebe zum Land und den Tieren habe ich sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen“. Sabine: „Ist das denn ausreichend als Qualifikation?“. Dadurch werden Klischee-Filmsätze immer wieder trocken gebrochen. „Ich glaub, wir hatten einen ziemlich schlechten Start.“ Antwort: „Wieso, gab es ein Wettrennen?“ Und Wortmetaphern werden von der Asperger-Hauptfigur missverstanden. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ Antwort: „Nein, dazu fehlen mir die physischen Voraussetzungen.“ Und sogar die falsche Übersetzung von Konfuzius wird gemaßregelt; das völlig unlogische „Der Weg ist das Ziel“ müsse korrekterweise heißen: „Ich habe meinen Willen auf den Weg gerichtet“. Das Gelingen des verbalen Herzstücks des Films steht und fällt mit Christina Große. Wie sie ihre Rolle durchspielt, das ist beeindruckend und zu Beginn für den (unvorbereiteten) Zuschauer sicher auch irritierend. Die Monotonie der Sätze, das fehlende Gefühl im Nonverbalen, die rigide Körpersprache – für ein romantisches Melodram ist das schon ziemlich ungewöhnlich. Diese Frau ist ein V-Effekt auf zwei Beinen. Eine Figur, die die Stereotypen des Genres aufreißt, um eine tiefere Schicht sichtbar werden zu lassen.

 

Ein Sommer in MasurenFoto: ZDF / Christine Pausch
Es dauert – bis die Heldin sich ein Stück weit auf die Umgebung einlassen kann. Ob sie die Schönheit Masurens überhaupt mitbekommt? Stefan Murr & Christina

CHRISTINA GROSSE (geboren 1970) gehört seit einigen Jahren zu den auffälligsten Gesichtern des anspruchsvollen Fernsehfilms; gelegentlich sieht man sie auch in kleinen, sympathischen Kinofilmen wie „Ich fühl mich Disco“. 2015 wurde sie für ihre Leistungen (innerhalb des Fernsehjahres 2014) in „Neufeld, mitkommen!“, „Spreewaldkrimi – Mörderische Hitze“, „Kommissarin Lucas – Der nette Herr Wong“, „Be my Baby“ und „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ für den Grimme-Preis spezial nominiert. Zuletzt war sie an der Seite von Charly Hübner in der großartigen ARD-Komödie „Anderst schön“ zu sehen.

Ein Film, der die romantische Liebe thematisiert
Bei jener Sabine fehlt die Fähigkeit zur romantischen Liebe. Dramaturgisch funktioniert diese Abwesenheit von Gefühlen nicht sehr viel anders als das „sich nicht riechen können“ in romantischen Komödien. Nur besser – sinnlicher und herzerweichender: Fast die Hälfte des Films wird man mit einem „schwierigen“ Menschen konfrontiert, das Wissen um das Genre aber legt einem nahe, dass wohl auch bei diesem „Problemfall“ etwas gehen müsste in Sachen Liebe – und wenn dann plötzlich Christina Große das erste Mal lächelt, geht förmlich die Sonne auf über dem masurischen See und es vermittelt sich ein ganz anderes, viel tieferes Gefühl als in Melodramen, in denen irgendeine ausgedachte oberflächliche Nichtigkeit zwischen dem Liebespaar steht. Hinzu kommt: Durch das Schicksal der Hauptfigur thematisiert „Ein Sommer in Masuren“ den Code der Romantik gleich mit. Die Idealisierung eines Liebesobjekts ist die Voraussetzung für das, was man gemeinhin „Liebe“ nennt. Die Heldin aber sagt: „Ich kann nicht lieben, weil ich nicht weiß, was der andere fühlt.“ Durch das Asperger-Syndrom wird so eine zweite Ebene in den Film eingezogen – mit dem Ergebnis, dass dieser Film ein Stück weit auch ein Diskurs über die romantische Liebe (und das Nichtwissenkönnen, was der andere denkt und fühlt) ist. Dass auf der Zielgeraden zum Happy End dann das Genremuster über die Fehlfunktion obsiegen muss, versteht sich von selbst. Weniger Asperger, mehr Nähe, Vertrauen, Berührung: das fordert das ZDF-„Herzkino“ – und kaum einer, der sich bei dieser wunderbaren Hauptdarstellerin daran stören dürfte!

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Reihe

ZDF

Mit Christina Große, Stefan Murr, Anna von Berg, Irene Rindje, Marlene Morreis, Dietrich Hollinderbäumer, Rainer Piwek

Kamera: Enzo Brander

Schnitt: Günter Heinzel

Musik: Dominik Giesriegl

Soundtrack: The Real Thing („You to me are Everything“), The Church („Under the milky way tonight“)

Produktionsfirma: Moviepool

Drehbuch: Claudia Leins

Regie: Karola Meeder

Quote: 4,95 Mio. Zuschauer (13,4% MA)

EA: 25.10.2015 20:15 Uhr | ZDF

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