Die 16-jährige Luca hat vor einem Jahr zwei Menschen erschossen. Das hübsche, introvertierte Mädchen äußerte sich bis heute nicht zu ihrer Tat – und sie schweigt weiter, auch im Prozess. Mit ihren Eltern will sie noch immer nicht sprechen. Die Mutter ahnt, weshalb. Die Sätze aus Lucas Tagebuch klirren ihr noch in den Ohren. „Sie lächelt alles tot – ich will in dieses Lächeln reinstechen… Wie hält sie es nur aus, so erbärmlich zu sein?“ Der Vater, ein uneinsichtiger Freizeitjäger, dem eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung droht, geht den pragmatischen Weg: Falschaussage der Ehefrau, zusammenhalten und nach zehn Jahren, wenn Luca rauskommt, wieder auf Familie machen. Die heftigsten Vorwürfe macht sich Lucas Freund Julius. Er hat den Ernst der Lage nicht erkannt, er hat nicht rechtzeitig geahnt, was wirklich in dem Mädchen vorgeht. „Willst du mit mir sterben?“ Immer wieder schaut und hört er sich das Video an. Luca richtet Vaters Gewehr auf ihn. Er hört seine Worte: „Nein, das ist nur ein Spiel, das weißt du, ja?!“ Aber er hört auch seine verhängnisvollen Worte: „Mach was, mach endlich was!“ Julius hat Lucas Negativität einfach nicht mehr ausgehalten.
„Ein Jahr nach morgen“ zeigt nicht nur das ratlose, hilflose Umfeld der Täterin, sondern nimmt sich auch der Opferseite an: ein traumatisierter Ehemann, ein verstörtes Kind, ein überforderter Teenager. Die Tat selbst wird nicht gezeigt. Stattdessen wird der Zuschauer Augenzeuge einer 90-minütigen Trauerarbeit, bei der es keine echte „Erlösung“ geben kann. „Lucas Schweigen übt einen immensen Druck auf alle Beteiligten aus, weil das bohrende Warum nicht beantwortet wird“, betont die Filmemacherin Aelrun Goette. „In dieser Überdrucksituation sind alle auf sich zurückgeworfen.“ Nur langsam weitet sich der Blick. „Wir haben eine Tochter, die uns hasst“, bringt es die Mutter auf den Punkt. Doch viel zu lange hat sie nichts verstanden. Diese Frau hat von dem, was ihre Tochter fühlt und denkt, nicht den blassesten Schimmer, sie versteckt sich hinter Gemeinplätzen („Es ist die Pubertät – da ändern sich die Dinge“). Erst als sie die Nähe zu Lucas Freund Julius sucht, arbeitet sie ihren Schmerz langsam ab. Ein wenig Hoffnung macht auch die sich anbahnende Freundschaft zwischen Julius und der Tochter eines Opfers. Das Kernproblem aber bleibt die Sprachlosigkeit, aus der die Verständnislosigkeit resultiert – zwischen jung und alt, zwischen Opfern und Tätern, aber auch innerhalb einer Generation. Lucas Eltern haben sich nicht mehr viel zu sagen und Julius sieht in seinen Mitschülern Feinde („Wer schwächelt hat verloren“).
Aelrun Goette, die sich sowohl in ihren Dokumentarfilmen als auch ihren Spielfilmen vornehmlich dem gestörten Seelenheil von Kindern und Jugendlichen annimmt, leuchtet auch in „Ein Jahr nach morgen“ in die wilden Parallelwelten junger Menschen. Da sind Wut und Verzweiflung, vielleicht auch Resignation, spürbar. Die Tat selbst, ihre Motive, erklärt sie nicht. „Aelrun Goette hat sich getraut, unser verständliches Verlangen nach Aufklärung, Erklärung, umfassender Deutung, Entschuldigung und Sühne auf den Prüfstand zu stellen, und wir Zuschauer gehen bei der Identifikation mit den Figuren einen ungewohnten, harten Weg“, betont WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke. Die Autor-Regisseurin macht es sich tatsächlich dramaturgisch nicht einfach. Aber macht sie es sich und dem Zuschauer nicht vielleicht zu schwer? An die Grenze des Erträglichen zu gehen, muss nicht immer die beste Lösung sein. Behutsam wird in den ersten 30 Minuten der Rahmen der Geschichte abgesteckt – alle Beteiligten geraten nach und nach in den Fokus der Geschichte. Räume und Figuren erschließen sich ohne große Erklärungen. Eindrucksvolle Szenen, starke, physische Momente ziehen einen in den Bann. Aber es gibt auch Situationen, in denen deutlich wird, dass das Ein-Jahr-danach-Konstrukt Schwächen besitzt. Der erste Dialog zwischen den Eltern von Luca und ihrem Anwalt enthält Sätze, die nur für den Zuschauer gedacht sind, die Standpunkte deutlich machen, aber die nicht für die Situation „ein Jahr danach“ stimmen.
So stark die Regisseurin Goette mit den Schauspielern arbeitet, so legt die Autorin Goette zu häufig ihren Figuren Plädoyers in den Mund. „Ein Jahr nach morgen“ erzählt keine gewöhnliche Geschichte, vielmehr werden Befindlichkeiten beschrieben. Das ist packend, wenn Gloria Endres de Oliveira das Unfassbare ausspricht, wenn ihr Bild zur Ikone postpubertärer Hilflosigkeit wird, wenn Tod für sie die letzte Garantie ist, nicht erwachsen werden zu müssen. Das ist schmerzlich und rührend, wenn Schwester und kleiner Bruder, gespielt von Isolda Dychauk und Maurizio Magno, immer wieder mit dem Tod der Mutter konfrontiert werden. Da ist aber auch simple Schwarzweiß-Rhetorik zu erkennen: wenn dem sensiblen Julius der Kotzbrocken Romeo gegenübergestellt wird; oder wenn Julius’ Vater in einer Szene sagt, „Sie hat dich geliebt, wahrscheinlich tut sie es immer noch“, und daraus ein Missverständnis entsteht: der eine meint die Mutter, die die Familie verlassen hat, der andere meint Luca. Und irgendwann ist es einfach zu viel: zu viele Blicke ins Leere, zu viele von Seelenschmerz verschleierte Gesichter, zu viele Menschen, die sich gegenseitig runterziehen. Trauer, Lethargie, Depression – der Film ergeht sich in Zustandsbeschreibungen, Befindlichkeiten, stark an der Grenze zur Betroffenheitsrhetorik. Da ist wenig Bewegung im Spiel. Goette erklärt dem Zuschauer zwar nicht die Tat, will ihm aber den Zustand der Welt erklären, ohne dass man den Eindruck hat, die ehemalige Dokumentarfilmerin hätte dabei großen Wert auf Recherche und Realitätsnähe der Milieus (Schule, Gericht) gelegt. Der Film – obwohl nach einem realen US-Fall erzählt – nimmt sich aus wie eine subjektive Abrechnung mit dem emotionalen Zeitgeist. Am Ende: das Lachen eines Kindes, der Versuch einer Annäherung. Wäre davon mehr zu spüren, wäre Goette mal wieder ein überragender Fernsehfilm gelungen. So ist es allenfalls ein „wichtiger“ Film!