Auf die Todesnachricht folgt Tabula Rasa
Holm (Matthias Habich) hat sich das alles leichter vorgestellt. Ein letztes Zusammentreffen mit seinen Liebsten, um ihnen bei Pastete, Wild und einem guten Schluck Wein mitzuteilen, dass die Krankheit zurück ist, er sterben wird und der Zeitpunkt auch schon feststeht: kommende Woche in der Schweiz. Ein bisschen viel auf einmal für seine Töchter Marie (Ina Weisse) und Charlotte (Katharina Lorenz), für seinen besten Freund Adrian (Edgar Selge) und dessen Frau Katharina (Ulrike Kriener). Und dann kommt auch noch ein Überraschungsgast: Rabenmutter Ella (Hannelore Elsner), die Frau, die vor über 30 Jahren durch die Drogenhölle ging und danach nicht mehr zurückfand oder finden wollte in den Schoß der Familie. Sie war die beste Freundin von Katharina. Jetzt sitzen sie alle an einem Tisch. Es wird ein langer Abend. Anstatt das Leben zu feiern und Holm zu bestätigen, „dass es ein ausgesprochen gelungenes Leben war“, wird abgerechnet. Alte Verletzungen brechen auf. Es werden gut gehütete Geheimnisse gelüftet, Lebenslügen zurechtgerückt, mal scheint blanker Hass den Raum zu erfüllen, doch auch mit Ironie und Sarkasmus begegnen einige der Anwesenden der für sie nur schwer erträglichen Situation. Irgendwann ist reiner Tisch gemacht. Alle Anwesenden sind erschöpft. Das Treffen scheint ebenso unpassend wie heilsam gewesen zu sein. Und der Gastgeber hat sich nicht nur diesen Abend leichter vorgestellt, sondern offenbar auch das Sterben.
Mit dem großen Zampano hat es sich bald
Nach dem amourösen Beziehungsreigen „Liebesjahre“ haben Autor Magnus Vattrodt und Regisseur Matti Geschonneck den Blick in „Ein großer Aufbruch“ erweitert um die Familie und die besten Freunde. Außerdem kommt noch ein Außenstehender hinzu: Heiko (Matthias Brandt), Maries Freund, dem die Aufgabe zukommt, sich vornehm ironisch zu wundern über diese Sippe und das Absurde ihres Tabula Rasa. Im Zentrum steht Holm, der mit großer Geste Regie führen möchte. Solange seine Liebsten nicht anwesend sind, klappt das gut. Zu Beginn des Films stellt der Übervater seine Gäste, die Figuren des Spiels, dem Zuschauer aus dem Off vor. Was auf den ersten Blick wie eine altmodische Erzählkonvention wirkt, bekommt bald einen höheren Sinn: Da schwingt sich einer zum allwissenden Ich-Erzähler auf, der in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, aber nicht mal weiß, dass er keine Pillen, sondern dort nächste Woche einen bitteren Saft verabreicht bekommt. Auch von seinen Liebsten weiß er längst nicht alles. Die Regie wird diesem intellektuellen Dompteur, der jahrzehntelang in der Entwicklungshilfe als Ingenieur tätig war, bald aus der Hand genommen. Zunächst von seiner ältesten Tochter, die sich auf dem Sprung in die USA befindet und ihn zur Eile zwingt. Was er ihr auf die Mailbox gesprochen hat, damit sie kommt, das muss er nun seinen Gästen noch vor dem Aperitif mitteilen: „Ich bin sehr krank, ich hab nicht mehr lang zu leben und heute ist der Tag, an dem wir voneinander Abschied nehmen werden.“
Foto: ZDF / Walter Wehner
„Der Grundgedanke war, einen gleichermaßen heiteren wie bösen Film über ein als schwer empfundenes Thema zu machen – die Konfrontation mit dem eigenen Sterben, die Aufarbeitung einer Familiengeschichte und die Bewertung des eigenen Lebens angesichts des Todes.“ (Drehbuchautor Magnus Vattrodt)
„Haben sich die Kinder von der Familie emanzipiert und sind selbstständig geworden, dann wecken Familienfeste Erinnerungen an alte Abhängigkeiten. Dann wird so ein Fest zu einem explodierenden Druckkessel.“ (Matthias Habich)
Rat mal, wer zum Leichenschmaus kommt!
Einige finden es befremdlich, auf diese Weise mitgeteilt zu bekommen, dass Holm unheilbar krank ist und nächste Woche sterben will. Der Gastgeber räumt später selbst ein, dass er seine Liebsten überfordert habe, weil er ihnen nicht die Zeit gab, sich an den Gedanken seines Todes zu gewöhnen. Für unbeteiligte Dritte wie Brandts süffisant lächelnden Top-Juristen – oder auch den Zuschauer – ist vor allem die spezielle Art, wie jeder der Gäste auf die Todesnachricht reagiert, von besonderem Interesse, spiegelt sich darin doch die über Jahre gewachsene Beziehung zur Hauptfigur: Für die kühle, überaus ernsthafte Marie ist ihr Vater der Inbegriff für Chaos, sie hat das Leben in Afrika gehasst, sieht in seinem Idealismus nichts weiter als Egoismus. Charlotte dagegen erinnert sich mit Freude an ihre Kindheit und Jugend; sie begegnet ihrem Vater herzlich, er ist ihr Vorbild – und so führt sie die Chaos-Tradition ihrer Eltern fort. Auch Adrian sieht in seinem besten Freund, dem er gern mit Wohltaten zu Diensten ist, eine Art Vorbild; er hat Respekt vor der Ruhe, mit dem Holm seinem Schicksal begegnet. Ex-Ehefrau und Ärztin Ella wurde – zur Überraschung einiger am Tisch – zur engsten Vertrauten in der „Sterbesache“. Sie kann sich, in der Schweiz lebend, einen Blick auf ihre Familie erlauben, der freier ist von Vorurteilen. Sie scheint stärker als alle anderen in sich zu ruhen. „Sie hat allen – auch sich selbst – vergeben“, so ihre Darstellerin Hannelore Elsner. „Das Tragische ist, Ella und Holm wären das ideale Paar gewesen.“ Ihre beste Freundin war Katharina. Wie Adrian seinen Freund, so hat sie eine zeitlang Ella bewundert, die Tollkühne, die Unerschrockene, die Wilde. Als Ella Stammgast in Suchtkliniken wurde, wollte Katharina deren Kindern die Mutter ersetzen. Heute bespuckt sie Ella mit Gift und Galle.
Foto: ZDF / Walter Wehner
Keine Sorge, jeder kommt an die Reihe!
Keine Frage, dieser große Zampano hat seine Schwächen, macht auf Weltverbesserer, wettert gegen den Materialismus des Freundes und lässt sich gleichzeitig von ihm aushalten. Und was ist von Jemandem zu halten, der seine Tochter bezeichnet als „einen freudlosen Fisch, der seinem sterbenden Vater das Leben zerredet“?! Aber auch die anderen haben wunde Punkte, an denen sie zur Selbstgerechtigkeit neigen. Und so entfernt sich die Gruppe zwar nur selten aus dem Wohnzimmer des zeitlos geschmackvoll eingerichteten Landhauses in der Nähe des Chiemsees, nimmt sich aber in schöner Regelmäßigkeit einen anderen Anwesenden zur Brust. Einige tun es freiwillig. „Wir sind Parasiten“, sagt Holms bester Freund über sich und seine Frau. „Man lebt ‚voneinander’, aber man sagt, man lebe ‚füreinander’, weil sich das besser anhört“, umschreibt Edgar Selge diesen Kommunikationstypus. Die Ausweglosigkeit solcher Abhängigkeitsverhältnisse ist für Selge das zentrale Thema. Der Autor umschreibt es etwas allgemeiner: „Mehr als um Sterbehilfe geht es am Ende also um Selbstbilder und die Lügen und Halbwahrheiten und Täuschungsmanöver, in denen wir unsere Leben einrichten.“ Das alles hat Vattrodt lebensklug eingefangen, fein choreographiert und verteilt auf markante Spannungsfelder, die sich überlagern und für kleine Explosionen gut sind. Und erst nachdem die schmutzige Wäsche eines jeden gewaschen wurde, ist es möglich, wieder aufeinander zuzugehen. Dieser Abend: ein reinigendes Gewitter? Oder der besagte „große Aufbruch“?
Präzise Viten ohne billige Psychologisierung
Nichts ist zufällig. Alles hat einen Sinn. Jede Geste, jeder Blick, jedes (böse) Wort hat seinen Grund. Auf manch eine Erklärung muss man bis kurz vor Partyschluss warten. Weshalb tut Adrian alles für Holm? Weshalb ist er ihm hörig, wie es Katharina nennt? Und warum nennt sie es wohl so? Und weshalb will sie Holm die Selbsttötung geradezu verbieten? Was im Drehbuch sehr präzise psychologisch entwickelt wird, daraus machen Matti Geschonneck und die Schauspieler ein elegant getimtes Kammerspiel, einen soghaften Schlagabtausch, der zwar ästhetisch verdichtet ist, das aber nicht offen zeigt, sondern der eher eine Konversation vermitteln möchte, wie sie durchaus auch in einer „realen“ Familie denkbar wäre. Auch wenn es die Figuren ständig versuchen – Vattrodt & Geschonneck psychologisieren nicht, werten auch nicht; das überlassen sie dem Zuschauer. Und sie verzichten aufs Ideologisieren, weil sie Menschenbilder und keine Abziehbilder zeigen. Natürlich waren Holm und Ella typische Achtundsechziger, sie haben den offenen Lebensstil genossen, sich ein Stück Freiheit genommen, während das befreundete Ehepaar dafür nicht mutig genug war. Natürlich haben sie sich vieles schön geredet, Fehler gemacht bei der Kindererziehung. Aber eine billige Abrechnung mit ihrer Generation ist „Ein großer Aufbruch“ erfreulicherweise nicht.
Foto: ZDF / Walter Wehner