Dunkelstadt

Alina Levshin, Melzener/Neviandt, Asli Özge. Doro Decker denkt sich ihr(en) Teil

Foto: ZDF / Sofie Silbermann
Foto Rainer Tittelbach

Alina Levshin ist Privatdetektivin Doro Decker in der neuen ZDF-neo-Serie „Dunkelstadt“ (Zeitsprung Pictures). Weil sie selbst eine Frau ist, die am Rande des Abgrunds balanciert, will sie den verlorenen Seelen der Großstadt helfen. Solange sie nicht vom Alkohol außer Gefecht gesetzt wird, verfolgt die Kettenraucherin engagiert und clever ihre Fälle. Die Serie erzählt abgeschlossene Geschichten, die zugleich Projektionen der Psyche dieser klassischen Anti-Heldin sind, und auch ein bedrohlicher, horizontaler Erzählstrang kristallisiert sich in den sechs 45-Minütern heraus. „Dunkelstadt“, originell erzählt und klar strukturiert, edel inszeniert und bestens besetzt, bezieht sich narrativ und ästhetisch auf den „Film Noir“. Das lässt die Verwendung von inneren Monologen, die als Voice-over über die Szenen gelegt werden, zwar motiviert erscheinen, das dürfte dieses dramaturgisch durchaus sinnvoll eingesetzte Stilmittel allerdings nicht weniger gewöhnungsbedürftig für den Zuschauer machen.

„Ich ahne, was Glück sein könnte. Aber wer würde es schon länger mit mir aushalten?“
Ihr Vater war Polizist und immer schon ihr Vorbild. Auch Doro Decker (Alina Levshin) wollte früh ihr Leben in den Dienst des Guten stellen. Doch autoritäre Strukturen und Grapscher sind nicht ihr Ding – und so flog sie von der Polizeischule. Jetzt schlägt sie sich als Privatdetektivin durch. Sie lebt in einer heruntergekommenen Gegend, wohnt in einer Art Asservatenkammer in Loft-Größe. Ihre Statur ist nicht gerade furchteinflößend, dafür hat sie ein loses Mundwerk, ein Talent zur Verstellung und ihr Kleiderschrank ermöglicht ihr immer wieder hilfreiche Maskeraden. So beschafft sie sich ihre Infos, so schleicht sie sich in verdächtige Milieus ein, und wenn sie mit ihren Methoden am Ende ist, hat sie ja noch ihren Assistenten Adnan (Rauand Taleb) und vor allem Chris Lautner (Artjom Gilz), ihren Verbündeten bei der Kripo. Beide fressen Doro förmlich aus der Hand, denn beide wollen von ihr geliebt werden: der eine wie ein Bruder, der andere wie ein Mann. Doch Doro braucht ihre Unabhängigkeit. „Manchmal ahne ich, was Glück sein könnte. Aber wer würde es schon länger mit mir aushalten?“, fragt sie sich. Ihr Selbstbild weicht ab von der Wahrnehmung anderer. Mit der (Selbst-)Liebe haut es einfach nicht mehr hin, nachdem ihr Vater im Dienst ums Leben kam.

DunkelstadtFoto: ZDF / Sofie Silbermann
Weshalb verschwinden in der Stadt Obdachlose? Doro (Alina Levshin) ermittelt in einem Abbruchhaus, das von Drogen-Abhängigen bewohnt wird. Sie spielt dabei mit offenen Karten, missbraucht das Vertrauen nicht. Jana McKinnon und Jesse Albert.

Originelle Episoden, Projektionen der Psyche der „Heldin“ & ein horizontaler Strang
Weil die Heldin selbst eine Frau ist, die am Rande des Abgrunds balanciert, will sie den verlorenen Seelen der Großstadt helfen. Solange sie nicht vom Alkohol außer Gefecht gesetzt wird, verfolgt die Kettenraucherin engagiert und clever ihre Fälle. Mal folgt sie der notgeilen Politprominenz in ihre geheimen Verließe, mal macht sie sich auf die Suche nach verschwundenen Obdachlosen oder nach einem untergetauchten Musical-Star. Auch ihre angeknackste Psyche wird herausgefordert: So bekommt sie es in einem Fall mit einer multiplen Persönlichkeit, in einem anderen mit halluzinogenen Pilzen zu tun. Die Serie „Dunkelstadt“ erzählt episodische Krimi-Geschichten, doch sie sind immer auch Projektionen der Psyche dieser klassischen Anti-Heldin. Und so erfährt der Zuschauer von Folge zu Folge einen Tick mehr über Doro Decker. Es sind nicht allein die eingestreuten Fakten ihrer Vita, man dringt auch immer mehr in das Wesen der Figur ein. Das Bruchstückhafte, das, was man sieht, und das, was die Figur (über sich) sagt, ergibt zunehmend ein runderes Bild von dieser jungen Frau. Es kristallisiert sich in den ersten fünf Folgen auch ein horizontaler Erzählstrang heraus, eine Familienangelegenheit, der die Privatdetektivin in der sechsten Folge nachgeht: Ihr Vater ist womöglich einst Opfer einer Verschwörung geworden.

Doro Decker denkt sich ihr(en) Teil = ein dramaturgisch sinnvoll eingesetztes Stilmittel
„Warum verschwinden in dieser Stadt Obdachlose, und vor allem, wohin?“, rätselt die Heldin. „Manchmal sitzt der Wolf ja auch mitten zwischen den Lämmern“, weiß sie. Oder sie kommentiert das Geschehen mit den Worten: „Eigentlich hasse ich Gewalt, denn es gewinnt meistens der Falsche.“ Alle diese Sätze sind Doros Gedanken; sie werden dem Zuschauer als Voice-over präsentiert. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, hat neben der aufschlussreichen Innensicht aber dramaturgisch durchaus seinen Sinn bei einer ermittelnden Einzelgängerin, die häufig keinen Ansprechpartner hat. Dieses Stilmittel besitzt noch weitere Funktionen. Gelegentlich stellt der innere Monolog Bezüge für den Zuschauer her („Das ist doch dieser schräge Typ, der meinen Namen wusste“) oder interpretiert die Situation leicht ironisch („Sie ist gut, aber sie lügt“), oft ist er witzig, indem er einen gesprochenen Satz kontert: Der Eso-Guru sagt, „Das ist unser Paradies“, und Doro denkt, „Und wir spielen gleich Adam und Eva“. Und die innere Stimme sagt immer auch etwas aus über die Figur selbst – ihre Persönlichkeit und ihre Haltung zur Welt. Äußert sich die Lebensphilosophie in knapper Form, komplettiert dies das Bild, das man von Doro hat. Wird das Ganze zu einer emotional unterfütterten Lebensweisheit hochgejazzt, kann das wie eine Strophe eines Rock-Songs klingen, aber auch schon mal in einen prätentiösen Metaphern-Salat ausarten (siehe Kasten). Eine stärker nuancierte und sparsamere Verwendung der Gedanken der Heldin hätte nicht geschadet.

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So sieht Privatdetektivin Doro Decker (Alina Levshin) aus, wenn sie sich nicht eine ihrer zahlreichen Masken aufsetzt, um den bösen Buben auf die Schliche zu kommen.

Ein Bild mit einem konkreten Bezug zur Obdachlosen-Geschichte: „Im freien Fall versuchst Du, dich noch irgendwo festzuhalten, aber Du spürst nur noch den Schmerz und siehst den Abgrund. Wohl dem, der in ein richtiges Bett fallen kann, wenn die Sonne unter dem Beton untergeht. Hinter dieser Stadt, die von allem zu viel hat – nur nicht für dich.“ Aus der zweiten Folge, „Schandfleck“

Diese Voice-over haben eine gute Tradition; gewöhnungsbedürftig sind sie trotzdem
Im letzten Jahrhundert hätten Kritiker „Dunkelstadt“ wahrscheinlich vorgeworfen, die Serie sei „zugeplappert“, anstatt über Bilder zu erzählen. Heutzutage verfährt man – was die Filmsprache angeht – weniger normativ. Alles ist eine Frage der jeweiligen Geschichte, des Konzepts, des Genres. Dass sich diese ZDFneo-Serie auf den „Film Noir“ bezieht, wirft noch mal ein anderes Licht auf die Verwendung dieses filmischen Stilmittels. Denn auch die Privatdetektive Philip Marlowe („The Big Sleep“) oder Sam Spade („The Maltese Falcon“) kommentierten in Filmen wie „Der tiefe Schlaf“ oder „Die Spur des Falken“ das undurchsichtige Geschehen. Eine Herausforderung für den Zuschauer bleibt dieses Voice-over allerdings trotzdem… Verbrechen und schicksalhafte Verstrickungen, psychologische Krisen, in denen sich der (moralische) Niedergang der Gesellschaft spiegelte, Entfremdung und Verunsicherung, das machte den Geist der „Schwarzen Serie“ aus. Dazu passend wurden die Bilder in ein Spiel aus Licht und reichlich Schatten getaucht. Das Dunkle, die Nacht waren der ästhetische Ort; Mord, Obsession, Sucht und Paranoia waren beliebte Motive des Genres. Heute darf sich jeder postmodern am Film Noir bedienen. Und so haben sich auch die Macher von „Dunkelstadt“ von dessen Narration und dem Weltbild inspirieren lassen.

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Doro Decker (Alina Levshin) wurde entlarvt. Männerphantasien werden entlarvt, aber nicht bedient. Ronald Kukulies

Prätentiöse Bilder, krumme, ungelenke Metaphern: „Diese Scheißsehnsucht nach Liebe. Sie nagt an Deinen Eingeweiden wie eine fette, unersättliche Ratte. Du versuchst, sie zu verjagen, mit dem stärksten Gift, das du finden kannst – aber die Ratte überlebt immer.“ Aus der vierten Episode, „Der weiße Wal“

Ein Hoch auf Kostümbild, Maske & vor allem Alina Levshins ikonografisches Potenzial
„Unsere Zeit ist eine komplexe, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Freiheit und Rücksichtnahme verschwimmen“, heißt es im Pressetext-Statement der Autoren Axel Melzener und Julia Nika Neviandt. Der Heldin haben sie eine Liebe zu Hochprozentigem ins Drehbuch geschrieben, sie zur Außenseiterin gemacht, der trotz ihres Status als vermeintlich Verlorene nie die Moral abhandenkommt. Doro Decker ist keine Zynikerin, sie ist jemand, so die Autoren, „der Hoffnung in eine scheinbar hoffnungslose Welt bringen kann“. Alina Levshin, die in „Im Angesicht des Todes“ ihren Durchbruch hatte, in „Die Kriegerin“ als Neonazi-Girlie und in „Alaska Johansson“ als Headhunterin brillierte und danach meist gutes Gebrauchsfernsehen darstellerisch veredelte, hat mal wieder ein Fiction-Format gefunden, bei dem sie mehr sein kann als eine schöne Nebensache. Als eine Frau, die in verschiedene Rollen (sexy-Kellnerin, Brillenschlange, Obdachlose, Business-Frau, coole Security-Frau) schlüpft, können Kostümbild und Maske an ihr einiges ausprobieren und sie selbst ihr großes ikonografisches Potenzial zeigen. Und ihre Zierlichkeit ist schöner Kontrast zu den Szenen, in denen sie auch mal austeilen darf. Aber „Dunkelstadt“ bleibt – auch wenn Realitätsnähe natürlich nicht Ziel einer solchen Private-Eye-Serie ist – in diesem Punkt realistisch: In jeder Folge gibt es eine Situation, in der es der Heldin massiv an den Kragen geht (was durchaus ernsthaft ist und kein ironisches Ritual); mal wird sie aufgehängt wie eine Sexsklavin, mal steht sie kurz davor, in einem Krematoriums-Ofen zu enden, mal sieht sie dem Tod durch Ertrinken ins Auge oder soll mit einem Chemie-Cocktail ins Jenseits befördert werden. Zu Beginn jeder Folge wird dieser dramatische Moment wirkungsvoll angeteasert.

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Mehr als nur ikonografische Qualitäten: Alina Levshin in „Dunkelstadt“, einer 6x 45minütigen ZDF-neo-Serie, die erzählerisch und filmästhetisch gleichermaßen überzeugt. Die Inszenierung von Regisseurin Asli Özge variiert je nach Milieu & Plot.

Film Noir als Vorbild, edler Look, aber „Dunkelstadt“ ist visuell nicht ganz so dunkel…
Regisseurin Asli Özge („Auf einmal“) konnte sich ihrer edlen Inszenierung zum Trotz nicht allzu viel vom Film Noir abgucken. Dafür ist „Dunkelstadt“ nicht dunkel genug (geschrieben). Sobald aber die vorzügliche Kamera von Emre Erkmen das Schwarz der Nacht in Augenschein nimmt und die Handlung auf mysteriöse Innenräume verlagert wird, bekommen die Szenen große Sinnlichkeit und atmosphärische Dichte, was sogleich auch die Spannung im Film erhöht. Die Unsicherheit, die im Genre erzählt wird, muss aber nicht unbedingt in düsteren Bildern vermittelt werden. So befindet sich in der fünften und aufregendsten Folge, „Traumfänger“, die in einer Esoterik-Kommune ermittelnde Detektivin plötzlich auf einem Magic-Mushrooms-Trip, was die Regisseurin nutzt für surreale Bild- und Ton-Effekte. Da tanzen die Farben, die Stimmen leiern und schließlich erscheint Doro noch ihr toter Vater. Auch die anderen Episoden wirken nicht wie Serien-Folgen von der Stange. Qualität zeichnet auch die Besetzung aus: Neben Alina Levshin überzeugen auch Rauand Taleb als Assistent mit türkischen Wurzeln und sonnigem Gemüt und Artjom Gilz als der sympathische Freund von der Kripo; die Rollen der beiden sind allerdings gefühlt nur ein Zehntel so groß wie die der Hauptfigur. Gut besetzt sind auch die Episodenhauptrollen – mit Picco von Grote, Maximilian Mundt oder Bernhard Schütz. In „Traumfänger“ hat man mit Florian Stetter, Idil Üner und Janina Stopper sogar drei Hochkaräter am Start. „Dunkelstadt“, in Antwerpen gedreht, reiht sich in die Galerie anderer origineller und abwechslungsreicher Drama-Serien von ZDF neo wie „Blaumacher“, „Komm schon!“, „Tempel“ und „Bruder – Schwarze Macht“. Auch dieser Zeitsprung-Pictures-Serie dürfte ein zweites Zuhause bei einem Streamingdienst wie amazon-Prime oder Netflix sicher sein. (Text-Stand: 6.2.2020)

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Serie & Mehrteiler

ZDFneo

Mit Alina Levshin, Rauand Taleb, Artjom Gilz;

Episodenrollen: Ronald Kukulis, Jörg Pintsch; Picco von Grote, Jana McKinnon; Maximilian Mundt; Bernhard Schütz, Julia-Maria Köhler; Florian Stetter, Janina Stopper, Idil Üner; Peter Marton

Kamera: Emre Erkmen

Szenenbild: Julian Augustin

Schnitt: Christian Krämer, David Wieching

Musik: Karim Sebastian Elias

Soundtrack: Iggy Pop („Search & Destroy“), Boney M. („Sunny“)

Redaktion: Alexandra Staib

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures, At-Prod

Produktion: Daniel Mann, Till Derenbach, Michael Souvignier

Drehbuch: Axel Melzener, Julia Nika Neviandt

Regie: Asli Özge

EA: 26.02.2020 21:45 Uhr | ZDFneo

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