Du sollst hören

Michelsen, Zander, Piwko, Krauter, Katrin Bühlig, Petra K. Wagner. Vorbildlich

Foto: ZDF / Silviu Guiman
Foto Rainer Tittelbach

Der ZDF-Fernsehfilm „Du sollst hören“ erzählt neben der Geschichte einer gehörlosen Familie, deren Eltern sich gegen eine CI-Operation der zweijährigen Tochter entschieden haben und nun befürchten müssen, dass ihnen ihr Kind weggenommen wird, außerdem die Geschichte einer Richterin, die sich durch diesen Fall mit ihrem eigenen Leben und einer jahrelangen Verdrängung konfrontiert sieht. „Du sollst hören“ (FFP New Media) ist das, was nicht nur Kritiker immer etwas abschätzig als Themenfilm bezeichnen. Jede Szene, jeder Charakter, das gesamte Beziehungsnetz sind mit dem Ziel entwickelt, für die Deutsche Gebärdensprache und für die Welt, die sich die Tauben (damit) erschaffen haben zu sensibilisieren. Und das gelingt – besonders in den filmischen Details, vom Sprach-Mix bis zur Ton-Ebene – vorbildlich. Ebenso vorbildlich: die Richterin-Figur und deren Darstellerin Claudia Michelsen. Das Abwägen zwischen Pro und Contra, diese Ausgewogenheit, die dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ästhetisch nicht immer guttut, hier ist sie alternativlos und wohltuend. Obgleich man in diesem Film, der produktionstechnisch ein heißer Ritt war, die Absicht „fühlt“, so spürt man doch in jedem Moment den Wunsch nach Wahrhaftigkeit. Und so ist denn der Kritiker trotz der erkennbaren Absicht am Ende kein bisschen verstimmt.

Familie Ebert ist gehörlos. Bei einer Untersuchung im Krankenhaus wird festgestellt, dass bei der jüngsten Tochter, der zweijährigen Mila, der Hörnerv ausgebildet ist. Mit Hilfe eines Cochlea-Implantats könnte das Kind bei entsprechender Förderung irgendwann „normal“ hören und sprechen. Der Chefarzt (Kai Wiesinger) überbringt persönlich „die guten Nachrichten“, die bei Conny Ebert (Anne Zander) gar nicht so gut ankommen. Ihr Mann Simon (Benjamin Piwko) zeigt sich offener, sieht auch die Vorteile eines solchen Eingriffs. Doch ähnlich wie ihre Schwester Jette (Laura Lippmann) weiß seine Frau auch ihn davon zu überzeugen, dass für ihre Familie und damit auch für Mila eine CI-OP wenig Sinn ergeben würde. Die Entscheidung der Eberts ruft den Chefarzt auf den Plan, das Jugendamt zu verständigen. Der Fall geht vor Gericht, wo Richterin Jolanda Helbig (Claudia Michelsen) in einem Sorgerechtsverfahren entscheiden muss, ob die Haltung der Eltern den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung bestätigt oder ob die Entscheidung vom Elternrecht geschützt ist. Unbeirrt – wenngleich zunächst widerwillig – stellt sie sich der großen Herausforderung. Der Fall könnte in die Annalen der Anwaltskanzlei eingehen, die die Eberts vertritt. Dass Helbigs sehr viel jüngerer Ehemann Jonas (Jan Krauter) dort seit Kurzem arbeitet und dass jener Chefarzt ihr Ex-Mann ist, das alles interessiert Helbig nicht. Schon immer ist diese Frau ihren eigenen Weg gegangen, ein Mal, vor neunzehn Jahren, war es allerdings nicht der richtige.

Du sollst hörenFoto: ZDF / Silviu Guiman
Die tauben Eltern (Anne Zander, Benjamin Piwko), aber auch Mats (Leif-Eric Werk) verspüren keine Defizite in ihrem Alltag. Aber was ist mit der kleinen Mila, deren Gehörnerv ausgebildet ist? Sie könnte mit einem Cochlea-Implantat unter Umständen später ein „normales“ Leben führen.

Der ZDF-Fernsehfilm „Du sollst hören“ erzählt neben der Geschichte einer gehörlosen Familie, deren Eltern sich gegen eine CI-Operation entschieden haben und nun befürchten müssen, dass ihnen ihre Tochter weggenommen wird, außerdem die Geschichte einer Richterin, die sich durch diesen Fall mit ihrem eigenen Leben und einer jahrelangen Verdrängung konfrontiert sieht. Kann man als Zuschauer besonders im Schlussdrittel darüber irritiert sein, dass Autorin Katrin Bühlig („Zweimal lebenslänglich“, „Weil du mir gehörst“) ihr Hauptthema aus den Augen verliert, fügt sich am Ende dieser ausführliche biographische Exkurs doch sehr stimmig in die gesamte Erzählung ein. Wie jeder Gehörlosen-Fall anders liegt und damit die Entscheidung CI ja oder nein unterschiedlich ausfallen kann, so ist es bei einem solchen Gerichtsverfahren, für den es möglicherweise wenige juristische Vorbilder gibt, entscheidend, wer hier am Ende zu einem Urteil kommen muss. Die Richterin zur Hauptfigur zu machen, ist also nicht nur dem Umstand geschuldet, eine für Hörende klassische Identifikationsfigur anzubieten. Ohnehin bedarf es dessen nicht. Denn die auch im echten Leben tauben Anne Zander als Conny Ebert und Benjamin Piwko als ihr Ehemann schwingen sich rasch zu realistischen Sympathiefiguren auf. In dieser Familie wird viel miteinander „gesprochen“, man streitet sich, man liebt sich, man versteht sich: Man lebt zusammen! Dagegen hat es im Film den Anschein, dass die der gesprochenen Sprache mächtigen Menschen wie die Helbigs in bestimmten Momenten des Lebens ziemlich sprachlos sind.

Anmerkungen zu dem ungewöhnlichen Produktionsprozess:
„Uns war es wichtig, dass alle gehörlosen Figuren auch von tatsächlich gehörlosen Darsteller*innen verkörpert wurden. Das hat alle Gewerke, von der Maske über Kostüm bis hin zur Kamera und natürlich die Regisseurin vor die Frage gestellt: Wie kommunizieren wir? Nicht zuletzt für unsere Script Continuity war der Film eine große Herausforderung. Uns war schnell klar, dass wir eine ganze Armada von Gehörlosendolmetscher*innen und Kommunikationsassistent*innen brauchen werden … Wir haben einen Deaf Supervisor engagiert, der während der gesamten Dreharbeiten und im Vorfeld auch bei den Coachings die Art und Weise, wie die tauben Schauspieler im Film gebärden, überwacht und uns in allen Fragen rund um die Gebärden beraten hat. Unser Deaf Supervisor Tobias Lehmann ist selbst taub. Seine Kommunikation mit der Regie lief wiederum über Dolmetscher*innen.“ (Simone Höller, Produzentin)

Du sollst hörenFoto: ZDF / Ben Knabe
Der Fall rührt an einem verdrängten Trauma der Kölner Richterin (Michelsen). Das macht Jolanda Helbig nachdenklich und einsilbig. Obwohl sie über die gesprochene Sprache verfügt, kommt es zwischen ihr und ihrem Mann zu keinem echten Gespräch.

„Du sollst hören“ ist das, was nicht nur Kritiker immer etwas abschätzig als Themenfilm bezeichnen. Jede Szene, jeder Charakter, das gesamte Beziehungsnetz sind mit dem Ziel entwickelt, für die Deutsche Gebärdensprache und für die Welt, die sich die Tauben (damit) erschaffen haben zu sensibilisieren. Das TV-Drama möchte die Zuschauer:innen, wie die ZDF-Redakteurin Petra Tilger im Presseheft schreibt, zu einem Perspektivwechsel einladen. „Der Film ermöglicht Hörenden, in die Welt einer tauben Familie einzutauchen, und er ermöglicht Gehörlosen, ein Stück ihrer Geschichte zu erzählen.“ Das gelingt im Detail vorbildlich. An den babylonischen Sprachmix aus „normalem“ Dialog, aus knappen, großen, gut lesbaren, bisweilen sehr phantasievollen Inserts, die ein Gebärdengespräch unter Tauben abbildet, oder gedolmetschten Kommunikationen hat man sich nach wenigen Minuten gewöhnt. Für Hörende besonders eindrücklich ist die Ton-Ebene: Immer wieder wird Stille simuliert, wobei beide möglichen Effekte, die Schönheit der Ruhe und die Nichtwahrnehmung von Gefahr, im Film thematisiert werden. Wie überhaupt stets versucht wird, dem Pro und dem Contra eines Cochlea-Implantats gleichermaßen eine Stimme zu geben. Dabei rutschen die Zuschauer in die Rolle der sich vorbildlich informierenden Richterin, die nicht nur Fakten sammelt, sondern die sich um ein tiefes Verständnis der komplexen Materie bemüht. Die Ausgewogenheit, die dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ästhetisch nicht immer guttut, in diesem Film ist sie alternativlos und wohltuend. Die Dramaturgie, das didaktisch gedoppelte Drama, hier kann man es sich gefallen lassen. Gefühlt über das Ziel hinaus schießt Bühlig allerdings mit dem Kurzschließen der Beziehungsnetze: Was beim Chefarzt funktioniert, erscheint bei Helbigs Mann überflüssig. Weshalb muss der ausgerechnet etwas zu tun haben mit der Kanzlei, die die Eberts vertritt? Klar, dramaturgisch wird so das Erzählte verdichtet. Der Zuschauer aber sieht den Zufall. Und der ist als Erzählprinzip schlecht beleumundet.

Du sollst hörenFoto: ZDF / Silviu Guiman
Beim Austausch der Argumente geht es mitunter ganz schön lebhaft zu in diesem ZDF-Fernsehfilm. An den Sprachmix aus „normalem“ Dialog, aus knappen, großen, gut lesbaren, bisweilen sehr phantasievollen Inserts, die ein Gebärdengespräch unter Tauben abbildet, oder gedolmetschten Kommunikationen hat man sich aber schnell gewöhnt. Zander, Laura Lippmann, Piwko, Michelsen und Kathrin-Marén Enders

Die Wahl eines Gerichtsverfahrens mit einer Richterin, die bereit ist, ihre Augen und Ohren zu öffnen, ist eine gute Drehbuch-Entscheidung. Schließlich soll der Film ja auch die Aufgabe der Gesellschaft, des Staates, in Sachen Inklusion, Vielfalt und Vorurteilsfreiheit mitthematisieren. Explizit werden diese Gedanken ausgeführt in dem Schlussplädoyer der Richterin, das sie – die Frau, die durch den Fall auch begonnen hat, ihr eigenes Trauma zu bearbeiten – am Ende mit einigen persönlichen Anmerkungen verlängert. Es ist die Quintessenz aus der Geschichte, ergänzt um Fakten und Aspekte zum Thema, die in der Handlung nicht „untergebracht“ werden konnten. Auch dieses ethisch-moralische Plädoyer am Ende ist natürlich höchst didaktisch und hätte leicht daneben gehen können. Doch wem, wenn nicht Claudia Michelsen könnte es gelingen, diese Botschaften angemessen zu vermitteln: klar, sachlich, menschlich, ohne falsche Gefühligkeit. Und auch wenn man in „Du sollst hören“, der vierte Film, den Petra K. Wagner („Tatort – Die Guten und die Bösen“, „Martha und Tommy“) mit Michelsen gedreht hat, in den gesamten neunzig Minuten die Absicht „fühlt“, so spürt man doch in jedem Moment gleichsam den Wunsch nach Wahrhaftigkeit. Und so ist denn der Kritiker bei so viel erkennbarer Absicht nicht verstimmt. Denn nicht nur jeder Gehörlosen-Fall liegt anders, auch jeder Film benötigt andere Beurteilungskriterien.

„Ist man automatisch unglücklich, wenn man gehörlos ist? Und ist man automatisch unglücklich, wenn man eine Behinderung hat? Wir Hörenden empfinden es als Defizit, nicht hören zu können, weil es einfach nicht unserem Alltag entspricht. Ein Alltag, der für Familie Ebert ganz normal ist. Sie können hören und sprechen. Sie haben ihre Sprache. Die Gebärdensprache ist seit 2002 eine anerkannte Sprache. Sollte es nicht Aufgabe des Staates sein, diese Sprache mehr in der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen?“ (aus dem Schlussplädoyer)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Claudia Michelsen, Anne Zander, Benjamin Piwko, Jan Krauter, Kai Wiesinger, Laura Lippmann, Sina Martens, Leif-Eric Werk, Delia Pfeffer, Luca Zamperoni, Patricia Meeden, Eva Verena Müller

Kamera: Peter Polsak

Szenenbild: Thomas Pfau

Kostüm: Angi Neis

Schnitt: Simone Klier

Musik: Helmut Zerlett

Redaktion: Petra Tilger

Produktionsfirma: FFP New Media

Produktion: Simone Höller, Michael Smeaton

Drehbuch: Katrin Bühlig

Regie: Petra K. Wagner

Quote: Quote: 3,59 Mio. Zuschauer (13,3% MA)

EA: 10.09.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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