„Wie es aussieht, will mich der Sensenmann nicht haben.“ Dr. Moritz Neiss (Patrick Kalupa) macht schon wieder Scherze, dabei ist er bei seiner OP nur knapp mit dem Leben davongekommen. Sein befreundeter Erzrivale Dr. Florian Schmittke (Maximilian Grill) hat die Narkosegasallergie noch rechtzeitig erkannt und ihn aus dem Koma geholt. Jetzt ist Neiss fast wieder der Alte – zumindest was das Herunterspielen seines Traumas und seiner Tablettenabhängigkeit angeht. Auch den Alltag in der Hausarztpraxis empfindet der einst international erfolgreiche Wiederherstellungschirurg nach wie vor unter seiner Würde, reißt sich allerdings seiner Assistentin Charlie (Josefine Preuß) zuliebe am Riemen; schließlich hat sie ja das Sorgerecht für seine Tochter Lea (Maj Borchardt) übernommen. Auch gegenüber Schmittke müsste er sich seine Belegbetten im Krankenhaus und seine Wiederauferstehung eigentlich durch große Willfährigkeit verdienen. Doch Provokationen liegen ihm mehr. Schmittke ist sich nicht sicher, ob man diese Psychopharmaka-Bombe überhaupt schon wieder auf Patienten loslassen kann. Selbst operieren kann Neiss wegen seiner noch immer steifen Hand ohnehin nur unter Mithilfe von Dr. Melek Birol (Idil Üner). Vielleicht bedarf es keiner Entscheidung von oben: Die Nahtoderfahrung hat den traumatisierten Doc doch mehr verändert, als es zunächst scheint.
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
„Sind Sie nicht der Wiederherstellungsarzt?“ – „Ja, aber ich kann kein Rückgrat verpflanzen.“ – „Sie kennen mich doch gar nicht.“ – „Ich weiß aber, dass Sie weglaufen, wenn’s schwierig wird.“ Mit Projektionen kennt sich dieser „Dr. Nice“ aus. Was er hier in der ersten neuen Episode, „Alte Narben“, dem Ex-Partner (Shenja Lacher) von Janne (Brigitte Zeh), in deren Hotel Neiss Dauergast ist, unter die Nase reibt, trifft auf ihn genauso zu. Spätestens in „Flammende Herzen“, der dritten neuen Episode der etwas anderen ZDF-Sonntagsfilm-Reihe, macht er einen ersten Rückzieher. Bis dahin lief alles in Richtung einer „normalen“ Liebesbeziehung mit Janne. Die Familienzusammenführung, ein intimes Abendessen am Strand mit Neiss‘ (One-Night-Stand-)Tochter Lea und Mikkel (Ben Ole Knobe), Jannes Sohn, ist ihm dann allerdings doch zu feierlich, und er kneift. Er mag den Jungen, doch mit der großen Verantwortung – Mikkel ist geistig behindert – kann Neiss (noch) nicht gut umgehen, auch, weil er um die hohen Erwartungen von Janne ihm gegenüber weiß. Trotzdem bekommt sein Image als Kritik- und Gefühls-resistenter Egozentriker erste Brüche. Neiss wird nachdenklicher, überall begegnen ihm Zeichen des Todes, blitzen Bilder seiner eigenen Operation auf, und er erinnert sich immer wieder an seine krebskranke, früh verstorbene Mutter. In der zweiten Episode fasst er sogar den Vorsatz, künftig besser mit den Menschen klarkommen zu wollen, die ihm etwas bedeuten.
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Neben der Nahtoderfahrung der Titelfigur trägt Dr. Clemens Jörgensen (Hannes Jaenicke) mit zu dieser moderaten Verhaltensänderung bei. Der Psychiater kommt in „Weiche Knie“ ins Spiel, um Neiss‘ Medikamentierung zu kontrollieren. Originell eingefädelt ist die erste Begegnung der beiden: Der Patient, der gerade noch seine seelischen Wehwehchen ironisch zum Besten gibt, wird zum behandelnden Arzt, da den Psychologen während der Therapiesitzung heftige Krampfattacken und Rückenschmerzen überfallen, die ihn seit Jahren begleiten und die kein Arzt in den Griff bekommt. Neiss wird helfen, aber auch Jörgensen hat ihn offensichtlich mit seiner Frage „Gibt es etwas in Ihrem Leben, das Ihnen uneingeschränkt Freude bereitet, abgesehen von Ihrem Beruf?“ zum Nachdenken gebracht. Mit einem anderen Satz trifft Autorin Elke Rössler gleich mehrfach ins Schwarze: „Der Psychologie und Psychiatrie wird immer vorgeworfen, es seien keine präzisen Wissenschaften, wir Therapeuten würden im Trüben fischen. Und wenn man mal ehrlich ist, sieht es bei euch keinen Deut besser aus.“ Ein wahrer Satz aus Jörgensens Mund, der Neissens Ehrgeiz wecken dürfte. Man kann nur hoffen, dass der grundentspannte Psychiater, der offenbar eine durchgängige Rolle wird, künftig mehr zu tun bekommt als in „Flammende Herzen“. So könnte das etwas alberne Verhältnis zwischen Neiss und Schmittke, das als Comedy-likes Ritual zu sehen ist, um eine nicht minder amüsante, aber thematisch relevantere Kollegen-Beziehung ergänzt werden. Darüber hinaus macht Jaenicke seine Sache gut, passt sich bestens ins Ensemble ein wie die anderen neuen Gesichter, beispielsweise Shenja Lacher und Nicki von Tempelhoff als Episodendarsteller.
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
„Dr. Nice“ wirkt nach neun (gesichteten) Episoden wie ein Sammelbecken aller Themen und Motive, die zwar auch in anderen der zeitgemäßeren Unterhaltungsfilm-Reihen auftauchen, aber in nur einem Format selten so kompakt wie hier erzählt werden. Ehe- und Paarprobleme gibt es überall, auch auf Work-Life-Balance, Selbstfindung, Diversität und die ewige Suche nach dem Glück, nicht mehr zwingend in Form einer (heterosexuellen) Beziehung, wird in „Herzkino“ & Co zunehmend Wert gelegt, und in leichten Dramen und Dramedys sind nach dem Ende der Liebesromanzen Lebens- und Beziehungskrisen die gängigsten Konfliktherde. Wenn dann noch jemand im Spiel ist, der seine Hilfe anbietet, halten ARD und ZDF das Portfolio offenbar für perfekt – egal, ob Dorfhelferin („Frühling“), Landärztin („Praxis mit Meerblick“), Versorgungshelferin („Die Eifelpraxis“), Gerichtsvollzieherin mit sozialer Ader („Billy Kuckuck“ alias „Eine mit Herz“), Müllmann mit Weltumarmungsfaible („Die Drei von der Müllabfuhr“) oder eben ein narzisstischer Chirurg auf Abruf, der nicht nur aus uneigennützigen Gründen hilft. In „Dr. Nice“ werden zudem Sujets gestreift, die in anderen Reihen(versuchen) im Zentrum standen: Psychotherapie („Familie Anders“, ZDF, 2022 + 2024), Gemeinschaft („Malibu“, ZDF, 2022) und Freundschaft („Freunde sind mehr“, ZDF, 2022).
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
Auch in den neuen drei Episoden ist also viel drin für Freunde leichter Unterhaltung, die nicht mit allzu viel Neuem konfrontiert werden wollen. Nach dem hochdramatischen Höhepunkt am Ende von Staffel 2 ruckelt sich alles wieder ein, allerdings verschiebt sich sowohl für die männliche als auch für die weibliche Hauptfigur die Perspektive in Richtung privates Glück. Charlie fühlt erstmals nach dem Tod ihrer großen Liebe wieder Schmetterlinge im Bauch, und auch Janne ist nach ihrer Aussprache mit dem Ex wieder offen für eine neue Beziehung und sie macht Neiss deutlich, dass er ihr viel bedeutet. Der genießt die Situation, bekennt sich allerdings weniger offen zu ihr. Man fragt sich, wie lange solche Konstellationen mit ihren moderaten narrativen Veränderungen halten? Wann hat man sie sich sattgesehen? Bei drei Episoden an zwei Tagen (wie beim Kritiker) – was eher nicht die Dosis eines Normalzuschauers ist – wird es schon kritisch. Allerdings zieht einen die erste Episode, die mit einer Trauerrede auf Mikkels Hamster beginnt, jedoch besser zu Nice passen würde, rasch wieder rein in den ostholsteinischen Mikrokosmos. Draußen Frühlingsgefühle, drinnen vorm Fernseher Lust auf Sommerferien. Pluspunkte sind die flotte Inszenierung, das sinnträchtige Blau, das sich häufig über die Bilder legt, der eine oder andere flotte Spruch (davon gern mehr!). Gelungen ist auch Neissens Selbsttherapie, bei der er sich an den Tod der Mutter und immer öfter an die schönen Momente mit ihr erinnert, und als visuelle Krönung der neuentdeckten Zweisamkeit fallen besonders die Unterwasserbilder von Patrick Kalupa und Brigitte Zeh ins Auge, aber auch eine kurze, erfrischende Sex-Szene, in der der Mann(!) mehr herzeigt als die Frau.
Eine Besonderheit, die „Dr. Nice“ mit „Ella Schön“ (ZDF, 2018-22), der ersten Erfolgsserie von Dreamtool Entertainment, teilt, ist die Dominanz der zahlreichen durchgehenden Charaktere und das Zurückdrängen der üblichen Zwei-Fälle-pro-Film-Dramaturgie. Das stärkt die horizontale Erzählung und betont beim Zuschauer den Alltagseindruck. Dazu passt der Heureka-Moment auf der Zielgeraden, wenn dem Doc ein Licht aufgeht – nicht durch einen Fachzeitschriftartikel, sondern durch eine Alltagssituation. Trotzdem spielt die Sensibilisierung für die Komplexität des menschlichen Organismus und die vielfältigen Probleme in der Medizin im Allgemeinen und der Diagnostik im Besonderen in der Reihe eine wichtige Rolle. Zudem verleihen die mysteriösen Krankheiten jeder Episode eine gewisse Finalität. Es stimmt also nach wie vor Vieles in dieser Reihe, in der der titelgebende Arzt selbst Hilfe braucht und in der dessen Sarkasmus die emotionalen Szenen, die man dem „Herzkino“-Fan nicht vorenthalten will, immer wieder dezent bricht (die Filmmusik könnte sich in den emotionalen und dramatischen Szenen daran ein Vorbild nehmen). Die ersten drei Episoden 2025 (drei weitere sind abgedreht und werden folgen) konsolidieren das bisher Erzählte. Mit dem Erfolg im Rücken hätte man sich schon ein wenig mehr Mut gewünscht.