Dr. Moritz Neiss (Patrick Kalupa) hat sich vom Jetset-Leben erst mal verabschiedet. Der ehemalige international renommierte Wiederherstellungschirurg will offenbar in dem kleinen Dorf in der Nähe von Flensburg bleiben. Dafür gibt es gute Gründe. Obwohl er die Hoffnung nicht aufgibt, ist die Heilung seiner steifen Hand nicht in Sicht. Die hiesige Landarztpraxis vorübergehend zu übernehmen, könnte ihn von seinem Schicksalsschlag ablenken. Er fremdelt allerdings mit den festen Sprechzeiten und der Banalität der Aufgabe. Ohnehin benötigt er ja noch die Zulassung als praktischer Arzt. Voraussetzung dafür ist ein Praktikum ausgerechnet bei seinem Erzrivalen Florian Schmidtke (Maximilian Grill), seines Zeichens Chefarzt des Fördekrankenhauses. Gut, dass Neiss Charlie (Josefine Preuß) hat; die sorgt für Struktur, kann gut mit den Patienten und ist auch privat mit Neiss verbandelt, da sie das Sorgerecht für seine Tochter übernommen hat. Lea (Maj Borchardt) ist das Resultat eines One-Night-Stands. Von ihrer Existenz weiß Neiss noch nicht lange – und obwohl Emotionen nicht so sein Ding sind, würde er seine Tochter gern besser kennenlernen. Das gilt gleichsam für Hotelbesitzerin Janne (Brigitte Zeh); die ist zwar auch angetan von ihrem Dauergast, hat jedoch Zweifel, ob dieser launenhafte Workaholic auf Entzug zu mehr als einer Affäre in der Lage ist.
„Dr. Nice“ geht nach den beiden Auftaktepisoden von 2023 mit gleich vier neuen 90-Minütern in die zweite Runde. Die Titelfigur bleibt ein Arzt, der selbst Hilfe braucht, medizinisch und – möglicherweise mehr noch – psychologisch. Dieser Mann ist großspurig, selbstgefällig, arrogant und besserwisserisch. Wenn Neiss zu Beginn von „Süße Lügen“ und „Federn lassen“ angebraust kommt, mit Motorboot oder Tragflächenboot plus aparter Begleitung, hat das mehr von James Bond als von Professor Brinkmann. In den nächsten Episoden fährt er einen Gang runter: Man sieht ihn auf einem Segelschiff während eines Spinfishing-Workshops mit seiner Tochter, und zu guter Letzt steigt Neiss um aufs Rad. Was die eigene Person angeht, wird er in „schwachen“ Momenten ruhiger, nachdenklicher, ja, der Egomane kann sich sogar mal entschuldigen – und wenn ein Joint im Spiel ist, versteht er sich plötzlich sogar mit seinem Intimfeind. Wenn es allerdings um medizinische Fälle geht, um merkwürdige Symptome und ungewöhnliche Krankheitsverläufe, dann kennt dieser Arzt weder Regeln noch Grenzen. Dann bricht er in fremde Häuser ein, bringt den Krankenhausalltag durcheinander und geistert sogar nächtens unbefugt durch die Klinikflure. Am Ende hat dieser Wunderdoktor immer Recht. Es fragt sich, wie oft sich dieses Muster wiederholen lässt…
Trotz vorhersehbarer Dramaturgie folgt man dieser unkonventionellen Reihenfigur gern durch die vier neuen Geschichten. Die medizinischen Fälle mögen nicht spektakulär sein, deuten aber immer wieder an, wie komplex doch der menschliche Organismus ist und wie schwierig es mitunter sein kann, Krankheitsursachen zu finden. In „Süße Lügen“ sind es plötzliche Lähmungserscheinungen, die eine Braut (Anja Antonowicz) lebensbedrohlich überkommen. Möglicherweise gibt es auch psychosomatische Ursachen. „Sie glauben, Ihre Hand wehrt sich dagegen, dass Ihr Verlobter seinen Ring draufsteckt“, bringt es Neiss salopp auf den Punkt. In „Federn lassen“ schrammt der Schwiegervater (Michele Oliveri) von Klinikchef Schmidtke am Erstickungstod vorbei. Seine Tochter (Teresa Rizos) holt bei Neiss, der offenbar auch mal mit ihr einen One-Night-Stand hatte, medizinischen Rat ein; sehr zum Leidwesen seines ewigen Kontrahenten, den mal wieder Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle plagen. In „Gebrochene Herzen“ sorgen eine durch einen Angelhaken schwer lädierte Nase und ein Sorgerechtsstreit für reichlich Drama und für Neiss‘ Einsatz in dessen Spezialdisziplin. Bei der OP ist er als Berater zugegen, später tut er sich sogar noch als Kinder- und Wahrnehmungs-Psychologe hervor, und auch seine eigene Genesung macht Fortschritte. In „Herzflattern“ schließlich steht der Chirurg, nachdem er die Schlafkrankheit des Dorf-Taxifahrers (Marc Zwinz) zu heilen wusste, mit seiner steifen Hand selbst im Mittelpunkt: Erst fällt er abermals auf die Problemhand, dann macht Schmidtke auf dem aktuellen Röntgenbild eine Entdeckung, die Neiss neue Hoffnung gibt, irgendwann selbst wieder das Skalpell zu schwingen.
Es liegt wohl im Wesen einer solchen Dramedy auf dem „Herzkino“-Sendeplatz, dass man sich erst wieder einsehen muss in diesen „Dr.-Nice“-Mikrokosmos. Zu Beginn der ersten neuen Episode fällt dem Kritiker vor allem das Stereotype auf: die gedrechselte Fallhöhe (Schwindel- und Schmerzattacke auf dem Polterabend), die Umkehr von Neiss‘ Fluchtinstinkt (jetzt will Tochter Lea raus in die weite Welt), die überdeutliche Spiegelung von A- und B-Plot (auch die Braut hat Probleme mit der Hand), der Score (besonders, wenn es dramatisch wird) und die genreüblichen Drohnen-Schönwetterbilder, die allzu deutlich zu erkennen geben, auf welchem Sendeplatz man sich befindet. Wenn „Dr. Nice“ dann aber seine Routinekontrolle in der Seniorenresidenz macht und mit The Clash Disko als Bewegungstherapie verordnet, ist das ein erstes beschwingtes Ausrufezeichen. Es folgen sympathische Annäherungsversuche („Ich bin schon schlechter geküsst worden“), der Einblick in Neiss‘ farbenfrohe Welt mit Hilfe eines Schrankkoffers, ein Elterngespräch mit einer köstlichen Rektorin. Auch in den anderen Episoden ist man immer dankbar, wenn die Komödie anklopft: Eine von Eifersucht angetriebene Verfolgungsfahrt nach Dänemark ist in „Feder lassen“ ein Highlight, weil es Medical-Fall und alle möglichen Beziehungen in einer Sequenz kurzschließt. Auch das komische Potenzial eines Lochs in der Hotelzimmerwand wird genutzt: in dem einen Raum Neiss und im anderen Schmidtke. Ein besonderer Spaß ist das erwähnte Joint-Venture zwischen den beiden.
Neben dem Prinzip „Dr. Neiss hat immer recht“ gibt es andere dramaturgische Muster, die in den Drehbüchern wiederkehren: Gern etablieren Elke Rössler und Simon X. Rost auf „falsche Erwartungen“. Als Neiss mal wieder Wut auf sich und seine gelähmte Hand hat, kommt prompt ein Anruf aus Sydney wegen der nun möglichen OP. Die Szene legt nahe, dass er den Eingriff nun doch vornehmen lassen könnte. Später stellt sich allerdings heraus, dass er abgesagt hat, auch, weil er mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen möchte. In diesem Fall ist es ein Trick, um den emotionalen Wohlfühlmoment zu steigern. Gleiches gilt unter anderem für den erwarteten „Anschiss“ vom Klinikvorstand. Freunde funktionaler Dramaturgie mögen solche Tricks clever finden… Es gibt auch Themen, die sich in „Dr. Nice“ wiederholen, jedoch anders bewerten lassen. Der Tablettenmissbrauch des Helden, der gekoppelt ist an eine manisch-depressive Disposition, ist gleichermaßen Leid- wie Leitmotiv. Damit verbunden sind emotionale Ausraster, mit denen er die Menschen, die ihn mögen, vor den Kopf stößt. Irgendwann kommt die Entschuldigung. Da sich dieses Verhalten aus der „Störung“ des Helden ergibt, wirkt es weniger stereotyp. Und es lässt sich noch tiefer in die gar nicht so „nice“ Psyche eindringen: Arbeit als Lebenselixier, Helfen/Heilen nicht nur aus uneigennützigen Gründen; eigentlich will das Ekel nur geliebt werden. Ein weiteres Thema: die beliebte Selbstmedikation; die Bekämpfung von Symptomen mit Mitteln, die die Erkrankung noch verschlimmern. Auch die Wechselwirkung von Wirkstoffen und Medikamenten kommt immer wieder ins Spiel. Grimmig ist auch der Cliffhanger. Die Auflösung folgt in einem Jahr, dann sogar mit sechs neuen Folgen.