Die Prinzessin muss gerettet werden, der Prinz ist der strahlende Held: Das ist das klassische Märchenmuster. Natürlich gibt es Ausnahmen, weil hier und da jungen Männern oder Frauen aus dem einfachen Volk ein sozialer Aufstieg vergönnt ist, aber das klassische Rollenbild bleibt in der Regel gewahrt. Da sich die ARD seit einiger Zeit gern progressiv gibt, suchen die Sender emsig nach Märchenstoffen, die sich gegen den traditionellen Strich bürsten lassen. Beispiele gibt es zur Genüge, viele davon sehenswert und sogar preisgekrönt, mit mutigen und klugen Heldinnen, die echten Vorbildcharakter haben. In diese Reihe gehört auch „Die verkaufte Prinzessin“. Anders als sonst basiert das Drehbuch allerdings nicht auf einer bekannten Vorlage, sondern auf verschiedenen bayerischen Sagen.
Der Film beginnt mit dem Auftritt der Hauptfigur. Zumindest der unbefangene jüngere Teil des Publikums wird ohne Rücksicht auf Gender-Sensibilität umgehend feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen jungen Mann offenkundig um eine Frau handelt. An diesem Manko scheitern ohnehin viele solcher Geschichten schon im Ansatz: Um unbelästigt reisen zu können oder leichter Arbeit zu finden, geben sich Mädchen als Jungs aus, was aber stets auf Anhieb durchschaubar ist; außer für die Filmfiguren. Melisa (Judith Neumann) ist in die Berge gekommen, weil sie im Bergwerk arbeiten möchte. Warum sich jemand diesen Knochenjob freiwillig antut, ist zwar ein Rätsel, aber ihr Großvater war ebenfalls Bergmann und hat ihr anscheinend derart tolle Geschichten erzählt, dass sie unbedingt in seine Fußstapfen treten möchte. Das Bergwerk ist jedoch seit einem Unglück geschlossen. Schuld an dem Einsturz des Stollens ist angeblich Berggeist Mehrich, der aus irgendeinem Grund Gefallen an Melisa findet und ihr fortan in wechselnder Gestalt zur Seite steht.
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Zu einer Geschichte wird die Handlung jedoch erst, als eine zweite weibliche Hauptfigur ins Spiel kommt: Prinzessin Sophia (Kristin Alia Hunold) soll die Nachfolge ihres noch gar nicht so alten, aber gebrechlichen Vaters (Pasquale Aleardi) antreten. Dessen Zwillingsbruder Rudolf will das verhindern und Sophias vierzehn Minuten jüngeren Zwilling (Langston Uibel) zum neuen Fürsten machen. Der junge Berthold ist kein schlechter Kerl, aber sein Onkel hat offenbar so lange auf ihn eingeredet, dass er nun selber glaubt, auf den Thron gehöre ein Mann. Damit ist die Botschaft derart klar, dass die Schlussbemerkung Mehrichs im Grunde überflüssig ist: ob Frau oder Mann sei einerlei. Der fortschrittlich eingestellte Teil des erwachsenen Publikums hat längst an die „gläserne Decke“ gedacht, die einen Aufstieg weiblicher Führungskräfte an die Spitze eines Unternehmens verhindert.
In diesem Märchen werden dagegen selbst die Räuber von einer Frau angeführt: Als Berthold und Sophie mit einem Auto (!) durch den Wald tuckern, werden sie von Wegelagerern überfallen. Melisa kann durch ihr beherztes Eingreifen zunächst Schlimmeres verhindern. Die beiden Frauen mögen sich auf Anhieb. Im weiteren Verlauf der Handlung liegt gar ein Kuss in der Luft, aber so weit wollten Su Turhan (Buch) und Matthias Steurer (Regie) im weihnachtlichen Nachmittagsprogramm dann wohl doch nicht gehen; für Kinder sind Melisa und Sophie ohnehin bloß gute Freundinnen. Nur auf den ersten Blick kühn ist auch die diverse Besetzung: Die Geschwister hatten eine schwarze Mutter. Aus historischer Sicht ist das sicher gewagt, aber selbst im Rahmen der ARD-Märchen keine völlig neue Idee, vom internationalen Film ganz zu schweigen. Turhan und Steurer haben zuletzt bei „Der starke Hans“ (2020) zusammengearbeitet; der Film war allerdings auch dank Hauptdarstellerin Bianca Nawrath deutlich besser. „Die verkaufte Prinzessin“ strahlt dagegen nicht die gewohnte Wärme aus, und das liegt sicher nicht nur an den kühlen Bildern; dem Film mangelt es auch an jener Mischung aus Leichtigkeit und Ironie, die in der Vergangenheit die herausragenden von den durchschnittlichen ARD-Märchen unterschieden hat. (Text-Stand: 28.11.2023)