Eine Frau bricht aus der Psychiatrie aus. Sie wird von dem Wunsch getrieben, mehr über die Vergangenheit ihres depressiven Mannes herauszufinden. Jene Rebecca Thalberg will wissen, wie ihr Schwiegervater, ein Glashüttenbesitzer im Erzgebirge, zu Tode kam, unter dessen krankhafter Härte ihr Ehemann Henry gelitten hat. Rebecca will auch Eleonor Thalberg, ihre Schwiegermutter, kennenlernen. Sie hofft, dadurch ihren Mann besser zu verstehen, zu begreifen, weshalb er sie nicht mehr begehrt, obwohl sie doch eine so tiefe, leidenschaftliche Liebe für ihn empfindet. Henry ist gegen die Reise in die Vergangenheit. Immer wieder verschwindet er, taucht unter in der Düsternis des Erzgebirges. Oder lebt er bereits im ewigen Dunkel – und es ist Rebecca, die ihn zum Leben erweckt? Und dann ist da noch ein Mann: Förster Tom Faller, der Gefallen an Rebecca findet. Dieser pflegt eine enge Beziehung zu Eleonor Thalberg und er trägt eine Uhr mit der Inschrift: „für meinen Sohn Henry Thalberg“.
„Die Stunde des Wolfes“ ist ein Film, der zahllose Fragen aufwirft. Weshalb hat die Schwiegermutter solch eine panische Angst vor Rebecca? Weshalb hat diese seltsame Frau, die selbst von ihrer „rabenschwarzen Seele“ spricht, nach dem Tod ihres Mannes das Haus nicht mehr verlassen? Und weshalb hat sie einen Privatdetektiv auf die gefürchtete Rebecca angesetzt? Wer ist dieser überaus freundliche Tom Faller? In welcher Beziehung steht er zu den Thalbergs? Ist Rebecca tatsächlich wieder gesundet oder ist sie psychisch krank – und die Handlung weitgehend eine Ausgeburt ihrer wahnhaften Phantasie? Ist Henry aus Fleisch und Blut oder eine imaginäre Größe? Und weshalb sagt dieser Sätze wie „Deine Liebe ist schlimmer als die Verachtung meines Vaters“? Und was hat es mit den Wölfen auf sich?
Matthias Glasner sorgt für eine stark Mystery-geschwängerte TV-Märchenstunde. „Die Stunde des Wolfes“ arbeitet nicht nur mit Märchen-Motiven, die Arte/ZDF-Koproduktion ist vielmehr auch logistisch und dramaturgisch wie ein Märchen gebaut. Verrätselungen und Mythisches konterkarieren den finalen Spannungsbogen, der in das Zentrum eines Familiengeheimnisses führt, in die alte, zerfallene Glashütte der Thalbergs. Mit Blitz und Donner wird dieses Geheimnis theatralisch bis trashig in einem aufregenden Action-Finale gelüftet. Silke Bodenbender, anfangs als barfüßige, blonde Märchenmaid, nimmt den Zuschauer mit in eine verwunschene Landschaft. Jürgen Vogel gibt den vielgesichtigen Henry und Ronald Zehrfeld den bärigen Frauenversteher. Es ist ein in Physiognomie und Körperlichkeit perfekt auf die Semantik der Geschichte abgestimmtes, traumhaftes Trio.
So eine Story, so ein Genre, das könnte mächtig schief gehen im Fernsehen. Matthias Glasner („Der freie Wille“) und sein Ko-Autor Sascha Arango („Blond Eva Blond“) machen das einzig Richtige: sie verzerren die abstruse Geschichte konsequent ins Irreale, lösen sie ästhetisch vom Fernsehrealismus und liefern am Ende dennoch eine logische Erklärung für all das scheinbar Unerklärliche? Wer die „Ereignise“ des Films zum Schluss noch einmal Revue passieren lässt, wird weniger narrative Ungereimtheiten und unaufgelöste, irritierende Momente finden als bei Glasners enigmatischer Hitchcock-Hommage „Die fremde Frau“. Und vielleicht lebt die Heldin sogar glücklich bis ans Ende ihrer Tage… (Text-Stand: 20.11.2011)