Also hatte er doch recht. Ex-Kommissar Fischer (Henry Hübchen) ist vor zwei Jahren desillusioniert in Pension gegangen. Bei seinem letzten Fall überwarf er sich mit seiner langjährigen Kollegin Konstanze Satorius (Victoria Trauttmansdorff). Jetzt klopft sie wieder an, kleinlaut, mit der Bitte, gemeinsam den Fall wiederaufzunehmen. Nicht offiziell, eher im Verborgenen, an der Kripobürokratie vorbei. Fischer lässt sich nicht zweimal bitten – so hat und hatte er doch eine besondere Beziehung zu der wegen Totschlags verurteilten Liane Sievers (Kim Riedle), aber auch zu ihrer Familie, dem sympathischen Ehemann (Franz Hartwig) und den Kindern Viola (Emilia Packard), Anton (Lionel Hesse) und Emma (Ida Lotz). „Du magst sie einfach…“, hielt die Kollegin Fischer vor, „es ist gut, dass du in Pension gehst.“ Jetzt bekommt die Wahrheit eine zweite Chance. Es gab ja durchaus einige Verdächtige im Mordfall Nicolai Schweitzer (Julian Weigend). Der Chef einer Werbeagentur muss ein ausgemachtes Ekel gewesen sein, unberechenbar, machtgeil, rücksichtslos – auch sexuell. Ausgerechnet die Frau, die ihn ermordet haben soll, hat immer auch seine positiven Seiten gesehen. Während einer Büroparty ist er mit einem Pokal erschlagen worden. Die Tatwaffe ist nun wieder aufgetaucht. Es war die Opfer-DNA auf der Kleidung, die zur Verurteilung führte. Jetzt könnte es weitere Spuren geben.
Foto: ZDF / Sandra Hoever
„Wie viel große Liebesgeschichten erlebt man?“, fragt sich die Frau, der so übel mitgespielt wird, in der ersten Szene von „Die Stille am Ende der Nacht“. Sie lehnt an einer Grabstätte. Sie wirkt jünger als Kim Riedle, wie man sie aus anderen Rollen kennt. Kein Wunder, die Szene ist eine Rückblende. Ihre Auslassungen über die Liebe teilt sie mit einer Toten. Wer diese Stefanie Danowski ist, die nur 20 Jahre gelebt hat, weiß man als Zuschauer noch nicht. Man sieht nur, dass die ernüchternden Erkenntnisse über die Liebe und die Unlust, sich „auf irgend so einen Idioten“ einzulassen, reine Theorie sind. Denn eine Filmminute später fällt er dann doch vom Himmel: Jasper Sievers, Landschaftsgärtner und bald die Liebe ihres Lebens. Er zaubert auf das ernste Gesicht der Frau ein Lächeln – und er selbst strahlt sowieso. Dieser Prolog und der vorangeschickte Satz aus dem Korintherbrief „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte unter diesen aber ist die Liebe“ lassen unschwer erkennen, dass dieses Krimi-Drama seine Geschichte tiefer, abgründiger und psychologisch ausgefeilter interpretieren wird als die meisten Filme des Mord-und-Totschlag-Genres. Auch die Wiederaufnahme des Falls wird differenzierter und formal weniger standardisiert erzählt als die pragmatischen Justizirrtums-Krimis – auch menschlicher, multiperspektivisch und – man könnte sagen – angenehm altersmilde, eher philosophisch als juristisch akkurat.
Foto: ZDF / Sandra Hoever
Das alles hat der Film von Lars-Gunnar Lotz nach dem Drehbuch von Nils-Morten Osburg mit seinen Vorgängern „Tage des letzten Schnees“ und „Das Licht in einem dunklen Haus“ gemeinsam. „Die Stille am Ende der Nacht“ ist der Abschluss der Fischer-Trilogie, die nach Motiven der Roman-Reihe „Kimmo Joentaa“ von Jan Costin Wagner entstanden ist. Die intelligente, flüssige und sehr gut nachvollziehbare Verschachtelung der Zeitebenen gehört zu den formalen Besonderheiten auch des dritten Films. Es wird nicht verrätselt des Verrätselns willen. Vielmehr wird die komplexe Handlung durch die Form präzise strukturiert. Fischer, Satorius und Kollege Jan Kettler (Lucas Reiber) treffen sich in der Jetztzeit und rekapitulieren den Fall von damals. Wie sie anfangs die Fakten weniger für sich als für den Zuschauer zusammentragen, ist zwar etwas ungelenk, aber dafür effektiv. Danach werden Zeugenaussagen von damals und Momente der verhängnisvollen Party erinnert. Es folgt die emotionale Verhaftung, aus dem Kreis der Familie heraus, wenig später die Verurteilung zu zwölf Jahren Haft – was Fischer an seinem Beruf zweifeln lässt. Danach nimmt sich der ehemalige Kommissar noch einmal die Verdächtigen von damals vor und findet heraus, dass der Chef mit Hilfe seines Administrators (Jonas Minthe) seine Mitarbeiter ausspioniert hat. Besonders fies ist er mit einer jungen Grafikdesignerin (Barbara Prakopenko) umgesprungen. Gründe, ihn zu verachten oder zu hassen, gab es also zur Genüge.
„Die Stille am Ende der Nacht“ wirkt kleiner als die zwei Vorläufer, klarer der Plot, klarer die Handlung, vermeintlich simpler die Konflikte. Das könnte ein Manko sein, ist es aber nicht. Osburg bricht den Krimi auf mehrere persönliche Dramen und Beziehungen („die größte aber ist die Liebe“) herunter, und Lotz setzt ganz auf seine Hauptdarsteller:innen, um aus den Interaktionen und den im Film erzählten Rückblenden 90 Minuten einen guten Flow zu generieren. Wie bei jedem Fernsehfilm lässt sich die Entwicklung der Handlung an den Dialogen „ablesen“. Dieser Film aber nutzt stärker als andere auch die Bildebene, um seine Geschichte facettenreich zu erzählen. Dazu gehören Bilder des Alleinseins (Liane Sievers am Grab, Fischers Wohnwagen, einsam, auf einer Klippe mit Meerblick), die Semantik des Lichts (der fast surreal überbelichtete Beginn einer Liebe, das helle Familienglück, das Dunkel der Zelle), aber und vor allem das, was sich in den Gesichtern spiegelt: die Schwere des Lebens in der besagten ersten Szene, dann die Hoffnung auf ein Liebesglück, später konnotiert die Physiognomie in Naheinstellungen Mutlosigkeit, Depression, gespielte Sorglosigkeit, wachsende Zuversicht, um nur das Mienenspiel von Kim Riedle zu beschreiben. Was sich auf Riedles Gesicht abspielt und mitunter auch bei Franz Hartwig und Henry Hübchen, das kommt ganz aus der Tiefe des Charakters, einem emotionalen Subtext, ist großes Schauspielerfernsehen. Nicht nur die filmischen Gewerke ästhetisch reizvoll auszuschöpfen, sondern den Schauspielern eine solche Bühne zu bereiten – das spricht aber auch für Lotz‘ Regie.