Ein Blick genügt, und man weiß Bescheid: Der Mann hat seine Familie nie wiedergesehen; jedenfalls nicht lebendig. Deshalb bleibt man auch etwas teilnahmslos, wenn Florian Lukas in der Rekonstruktion der Ereignisse erschüttert vor dem zerstörten Haus steht, dem die Flut die Fassade weggerissen hat. Das ändert sich auch später nicht, als er Frau und Kinder identifiziert. Der echte Horst Sahm geht einem viel näher. Noch heute, über vierzig Jahre nach den Ereignissen aus dem Februar 1962, steht ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Sahm ist die eine starke Figur dieses Doku-Dramas, Helmut Schmidt die andere. Der Alt-Bundeskanzler ist der unumschränkte Star des Films. Obwohl weit über achtzig, entwickelt Schmidt eine Präsenz, die einen gut nachvollziehen lässt, warum Menschen wegen ihm mal in die SPD eingetreten sind. Allerdings wird diese Präsenz auch mächtig gepflegt: Seine Erinnerungen prägen den dokumentarischen Rahmen, sein Alter ego (verkörpert von Ulrich Tukur) setzt sie entsprechend schmissig in den Spielszenen um. Als Mitte Februar 1962 die „Große Flut“ über Hamburg hereinbrach, weil die Deiche einer Sturmflut nicht standhalten konnten, war Schmidt, damals Polizeisenator, jederzeit Herr der Lage; soweit davon überhaupt die Rede sein konnte. Zumindest legen seine Schilderungen dies nahe, und Raymond Ley fand anscheinend niemanden, der dem widersprechen wollte. Allein der damalige Einsatzleiter äußert mal Kritik: Er hatte dem Politiker das Krisen-Management nicht zugetraut und ihn daher zunächst nicht informiert. Tatsächlich hatte das möglicherweise andere Gründe: Als Schmidt endlich auftauchte, riss er sämtliche Befugnisse an sich. Offenbar mit Erfolg: Die Äußerungen über ihn sind ausnahmslos von Respekt erfüllt; allerdings verschwindet der Einsatzleiter, kaum hat der Senator das Ruder übernommen, komplett aus der Handlung.
An der Qualität des Films, der ohne jeden Kommentar auskommt, ändert diese fast devote Haltung Leys im Prinzip nichts. Es verwundert nur, wie sehr Ley den Altkanzler beständig durch Zwischenschnitte ins Spiel bringt, auch wenn der gerade gar nicht beteiligt ist; einmal sieht man bloß, wie er sich eine Zigarette anzündet. Schon zur Einführung, nach einer kurzen hektischen Szene am Deich, darf Schmidt dem Film mit markigen Worten sein Vorzeichen verpassen: Im Krieg, erzählt er, habe man zwar „vielerlei große Scheiße erlebt“, aber eben auch, in unübersichtlichen Situationen die eigene Haut und die des Kameraden zu retten.
Wer Schmidt nicht mag, aus welchen Gründen auch immer, wird große Probleme mit diesem Film haben. Sieht man mal von der Denkmalpflege ab, ist Ley dennoch ein packendes und bewegendes Doku-Drama gelungen. Es spricht für die Auswahl der Zeitzeugen, dass ihre Ebene oftmals die stärkere ist. Wenn eine Frau erzählt, sie habe bis zum 16. Februar 1962 „eine tolle Kindheit“ gehabt, erahnt man, in welchem Maß die Ereignisse dieser Nacht das Leben der Betroffenen zum Teil für immer verändert haben. Zwar verblassen die rekonstruierten Wassermassen im Vergleich zu den faszinierenden Schwarzweißbildern von den tosenden Fluten, die sich erbarmungslos und gleichgültig ihren Weg bahnen. Doch dafür gelingen Ley andere, fast beiläufig inszenierte Momente um so intensiver: wenn eine Frau, gerade noch neben ihrem Mann, der wie Christophorus das gemeinsame Kind auf den Schultern trägt, einfach so im Wasser verschwindet; oder wenn eine Gruppe, die sich auf ein Hausdach gerettet hat, hilflos mitanhören muss, wie wenige Meter entfernt eine Nachbarin in ihrem Haus ertrinkt. In der härtesten Szene diskutiert ein Elternpaar (Christiane Paul, Arndt Schwering-Sohnrey) angesichts der steigenden Flut, welches ihrer Kinder sie retten sollen: Die Mutter will das Baby opfern, der Vater den ungefähr sieben Jahre alten Sohn.
Wie Florian Lukas, so stehen allerdings auch die anderen namhaften Darsteller der Wirkung des Films im Weg: Sie sorgen dafür, dass man sich von der Spielhandlung leichter distanzieren kann. Hinzu kommt, dass Ley, ob Absicht oder nicht, Rätsel aufgibt: Wer als Zeitzeuge zu Wort kommt, hat selbstredend überlebt. Der von Schwering-Sohnrey verkörperte Familienvater taucht in der Rahmenhandlung jedoch nicht auf, so dass lange offen bleibt, ob er zu den 315 Opfern der Katastrophe gehört. Er hat, erfährt man später, das Erlebnis auf dem Dach offenbar nie verkraftet und sich zwei Jahre drauf das Leben genommen. Was aus dem Sohn geworden ist, bleibt offen. Die Effekte mögen nicht ganz so großartig ausfallen wie in dem teamWorx-Spektakel „Die Sturmflut“, das RTL im Februar ausstrahlen wird; doch auch so wird die immer noch von Entsetzen geprägte Erinnerung der Opfer – „Und überall war Wasser“ – nachhaltig illustriert. (Text-Stand: 20.10.2005)