„Ich sehe tote Menschen“: Der Satz sorgte beileibe nicht für den einzigen Gänsehautmoment in dem stillen, aber fesselnden Thriller „The Sixth Sense“. Felix Mitterer sagt zwar, eine Frau aus seinem Bekanntenkreis habe ihn zu der Geschichte „Die Heilerin“ animiert, doch Parallelen zum Film von M. Night Shyamalan sind nicht zu übersehen. Allerdings besitzt hier eine alte Frau jene Gabe, die sich gleichzeitig als Fluch erweist: Halfried Seelig (Ruth Drexel) hat heilende Kräfte. Weil sie aber vor Jahren ihrem an Krebs erkrankten Vater nicht helfen konnte, musste sie ihrer Familie versprechen, diese Kräfte nicht mehr zu benutzen. Vor allem Tochter Marion (Geno Lechner) ist als Ärztin strikt gegen die Gabe. Trotzdem muss die alte Halfried einen Preis zahlen, an den sie sich nie gewöhnt hat: Immer wieder ist sie von Toten umgeben.
Man könnte „Die Heilerin“ leichthin abtun als nicht mal sonderlich originelles Dialektdrama mit stark esoterischem Einschlag. Doch Mitterer erzählt mehr als bloß ein mystisches Märchen. Letztlich geht es um die Konflikte zwischen Mütter und Töchtern. Marion ist unglücklich mit einem Münchener Schönheitschirurgen verheiratet, verlässt ihn zu Beginn der Geschichte und kehrt heim ins Salzkammergut, um dort die Praxis ihres Vaters (Samarovski) zu übernehmen. Doch nicht nur Halfried und Marion haben sich kaum noch etwas zu sagen. Marion findet auch keinerlei Zugang mehr zu ihrer jungen Tochter Laura (Kurka), einem stillen, verträumten Mädchen, das sich abkapselt und lieber liest, als sich mit Gleichaltrigen zu umgeben.
Selbst wenn man es ahnt, kommt Lauras Initiation überraschend und sorgt so für den großen Gänsehautmoment dieses Films: Ein belebtes Wirtshaus und ein daran angeschlossener, ebenfalls besetzter Kinosaal entpuppen sich als seit langer Zeit verlassen und voller Gerümpel; Laura hat den Fluch der Großmutter geerbt. Wie so oft in solchen Geschichten muss es fast bis zum Äußersten kommen, damit sich die Frauen aussprechen: Erst ein Autounfall, bei dem Marion beinahe stirbt, sorgt dafür, dass alle drei endlich aus sich herausgehen.
Auch wenn sich Mitterer mitunter Exkurse erlaubt: Der von Holger Barthel mit viel Freude an der prachtvollen Landschaft rund um Bad Ischl am Traunsee inszenierte Film konzentriert sich selbstredend auf seine Hauptfigur. Die Geschichte ist voll und ganz auf Ruth Drexel zugeschnitten, die ja mittlerweile so etwas wie eine Quotengarantie ist; ohne seine resolute Mutter Resi wäre beispielsweise der brummige „Bulle von Tölz“ (Sat 1) kaum vorstellbar. Die Niederbayerin ist einem breiten Publikum zwar erst als Volksschauspielerin bekannt geworden, kann aber auf eine beachtliche Theaterkarriere zurückblicken, und das nicht nur auf der Bühne: Als eine der ersten Frauen überhaupt übernahm sie zu Beginn der 80er Jahre regelmäßig Inszenierungen am Bayerischen Staatsschauspiel. (Text-Stand: 20.4.2005)