Es sollte nur ein Besuch werden. Die junge italienische Lehrerin Rosaria, die nach einer Erdbebenkatastrophe in ihrer Heimat mit traumatisierten Kindern von einem Dorf in der Steiermark eingeladen wurde, hat selbst den Verlust der eigenen Familie zu verarbeiten. Der wilde Dorf-Hallodri Josef scheint auf den ersten Blick zwar ein ganz anderer Mensch als die achtsame Italienerin zu sein, beide aber spüren, dass sie etwas verbindet. Auch der Musiker, der seine Passion für den Hof, den er einmal erben soll, an den Nagel gehängt hat, kennt das Gefühl des Verlusts nur zu gut. Er war noch klein, als seine Mutter die Familie verlassen hat. Er ist seither das schwarze Schaf der Familie, während sein größerer Bruder, der verwitwete Franz, der Vernünftige, der Verlässliche ist. Das Sagen auf dem Hof und überhaupt hat aber noch immer der Vater der ungleichen Brüder, ein schroffer, cholerischer Bauer, der gern mal zuschlägt. Was hat sich Rosaria mit dieser Familie und diesem Dorf da nur eingehandelt? In ihre Heimat, zu den Toten und den Erinnerungen, will sie aber erst recht nicht zurück.
„Die Fremde und das Dorf“ ist ein archaisch anmutendes Familiendrama im alpenländischen Milieu, in das aber die Moderne Einzug hält. So sind die Charaktere keine grob gehobelten Versatzstücke aus der Bauern- und Bergwelt-Dramatik; dafür kommt Psychologie in die vielen Konflikte, die oft nur angedeutet bleiben – aber für eine Atmosphäre der Feindseligkeit sorgen. Auch das Geheimnis, das den Hof des Vaters umweht, wirkt nicht nur in ihrer genrehaften Darstellung stimmiger als die in den privaten Krimidramen vor Landschaft präsentierten Schatten der Vergangenheit: Die Familienkonstellation hat ihre Geschichte. Der Film von Peter Keglevic atmet einen erdigen Realismus, der nicht auf vordergründige Spannung setzt, sich vielmehr auf die Figuren und besonders die vorzüglichen, rollengenau gecasteten Schauspieler verlässt. Manuel Rubey überzeugt als der Bruder mit der autoaggressiven, vermeintlich dunklen Seite, Max von Thun ist nicht weniger passend besetzt als edle Lichtgestalt und August Schmölzer spielt den Dauer-Grantler nie als Karikatur. Selbst die Nebenrollen sind mit Franziska Walser, Saskia Vester und Franziska Weisz hochkarätig und leicht gegen den Strich besetzt. Dass Weisz in einem österreichischen Dorf eine Bürgermeisterin spielt, mögen Realitäts- und Glaubwürdigkeitsfetischisten bekritteln, in diesem Film wirkt es erfrischend – und es sorgt dafür, dass der Kreis der handlungstragenden Figuren überschaubar bleibt.
Ganz und gar getragen aber wird „Die Fremde und das Dorf“ von Henriette Confurius als der jungen Italienerin, die die Gefühlswelt des steirischen Bergdorfs gehörig durcheinanderwirbelt. Sie, die geborene Blick-Schauspielerin, schenkt diesem Film nicht nur ihr ausdrucksstarkes Gesicht, sie gibt ihm eine Seele und jeder Szene eine Kraft, die aus dem Stillen schöpft. Confurius besitzt eine klassische Schönheit, die perfekt das Genre transzendiert. Weisheit strahlt aus ihren ernsten Zügen, unbändige Lebensfreude aus ihrem Lächeln. Obwohl für die Rolle ein wenig zu jung, ist Henriette Confurius, die bereits mit 17 in Friedemann Fromms Preisabräumer „Die Wölfe“ spielte und deren Qualitäten zuletzt auch Dominik Graf für seinen Kinofilm „Die geliebten Schwestern“ entdeckte, die perfekte Besetzung dieser Figur, die in der Story als Projektionsfläche für Phantasien, Verletzungen, Eifersucht und andere Traumata fungieren muss. Gesicht und Geschichte laden sich gegenseitig ein. Ein Glücksfall.
Regisseur Peter Keglevic gelingt es, mit seinem Kameramann Emre Erkmen und dem Szenenbildner Thomas Vögel, ein Umfeld aus Licht und Schatten, aus Räumen und Blicken zu schaffen, in dem die vorzüglichen Schauspieler sich mal dramatisch, mal ganz leise entfalten können. Die Landschaft ist hier mehr als ein Spiegel der Innenwelten; sie gehört zum Milieu, ist Teil der Charaktere, sie formt und bestimmt das soziale Leben. Auch wenn Autorin Konstanze Breitebner altbekannte Themen und Motive aus der Bauern- und Bergwelt variiert, so ist „Die Fremde und das Dorf“ doch einem eher realistischen als melodramatischen Konzept verpflichtet. Aber auch in einem solchen der Wirklichkeit verhafteten Umfeld muss am Ende nicht alles bleiben, wie es war. Erdbeben können manchmal heilsam sein.