Ein Toter im Watt. Der Mann war kein Tourist. Seit vielen Jahren hatte er ein Ferienhaus auf der Insel. Mit den Gezeiten kannte er sich aus. Mit seinen Gefühlen und denen seiner Frau war er weniger vertraut. Er zog sich vor einigen Jahren von ihr zurück; sie nahm sich einen Liebhaber. Hinzu kam eine schwere Krankheit. War sie die Ursache für diesen letzten Gang? War dieser Tod also Selbstmord? Oder war es ein Schwächeanfall? Ein Unfall? Oder hielt die Frau diese unterkühlte Beziehung nicht mehr aus und hat am Rad der Geschichte gedreht?
Eine junge Polizistin ermittelt: Sie ist in erster Linie Mensch
Obgleich eine Inselpolizistin dem Todesfall nachgehen muss, ist der Fernsehfilm „Die Flut ist pünktlich“ nach der Erzählung von Siegfried Lenz ein Beziehungsdrama, das weitgehend ohne klassische Spannungsdramaturgie auskommt. Diese Dreiecksgeschichte mit Polizistin, die angesichts des überschaubaren Eilands ohnehin fast mehr Privatperson ist, gibt kein Genre-Versprechen, auch wenn die ZDF-Strategen dieses Angebot an den Krimizuschauer, das die Lenz-Erzählung nicht enthält, sicher ganz bewusst gesetzt haben. In diesem Film interessiert allein das, was zwischen Menschen passiert, oder besser: was nicht passiert. Schweigen, Lügen, Missverständnisse. Den Fragen, denen ein Rechtsstaat und dessen Ordnungshüter nachzugehen hat (Suizid? Unfall? Mord? unterlassene Hilfeleistung?), muss sich diese literarische Filmerzählung nicht stellen. Sie zeigt Entfremdung, Einsamkeit, Leere. Sie wirft aber durchaus Fragen der Moral auf, klärt sie aber nicht juristisch. Wer liebt, verurteilt nicht.
Auch als Zuschauer sucht man Antworten auf die Fragen, die im Raum stehen. Aber anders als bei einem Krimi lässt man die Geschichte auf sich zukommen. Bei diesem Film heißt das: die Situationen, die Augen-Blicke, die Bilder auf sich wirken lassen. Und auch die Musik, der im entschleunigten Nordsee-Ambiente eine besondere Bedeutung zukommt. Sie umspielt die Bilder, wie das Wasser die Insel umspült. Sie belebt die Landschaft, fordert das Schicksal heraus, sie deckt nicht dröhnend das Gezeigte zu, sondern beflügelt den Gedankenfluss des Zuschauers, der hier auch Zuhörer sein muss. Der Film nach dem Drehbuch von André Georgi ist kein Krimi. Die Musik und die Bilder detektivisch zu lesen, schadet aber nicht.
Worte laufen ins Leere, die Blicke verraten nichts
„Der Zuschauer wird zum Kommissar. Er macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Nach dem wahren Inhalt von Worten. Nach der wahren Bedeutung von Blicken.“ So umschreibt sehr treffend Regisseur Thomas Berger den Appellcharakter, der von der großen audiovisuellen Kraft des Films ausgeht. „Es sind die Augen, in denen man lesen möchte.“ Das stimmt. Ina Weisse, Bernadette Heerwagen, Jürgen Vogel, Nicolette Krebitz und August Zirner als der Tote im Watt, der in elegant eingewobenen Rückblenden wieder zum Leben erweckt wird – ihr aller Spiel gibt keine frühzeitigen Antworten. Rätselhaft bleibt die Szenerie, ohne dass künstlich oder dramatisch dem Zuschauer Rätsel aufgegeben würden. Fragen, nichts als Fragen. Ermittlungsfragen („Warum haben Sie ihn nicht als vermisst gemeldet?“). Man fragt sich aus. Man fragt vorwurfsvoll („Was machst du hier?). Man fragt, um Wissen und Macht zu erlangen. Man fragt, weil man unsicher ist. Man fragt aus Verlegenheit („Magst du was essen?“). Man fragt, weil man Nähe sucht. Man fragt, weil man es ganz genau wissen will, wie ein Kind („warum?“). Dieser Film eignet sich als Lehrbeispiel für Sprachwissenschaftler. Geantwortet wird nicht immer. Erst am Ende, bei der finalen Seebestattung, bleiben keine Fragen mehr offen. Gedanken über das Ende hinaus kann man sich als Zuschauer dennoch machen. Auch das eine Bestätigung dafür, dass „Die Flut ist pünktlich“ kein Krimi ist.