Joachim Vernau geht unter die Dozenten. Eine alte Schulfreundin seiner Kanzleikollegin ist die ehrgeizige Rektorin an einer Berliner Privatschule; sie konnte den renommierten Juristen dazu überreden, eine Jura-AG zu unterrichten, die ein ebenso anspruchsvolles wie zweifelhaftes Konzept verfolgt, den „Teen Court“: Schüler richten über sich selbst – sprich: über ihre Mitschüler. Aber es ist nicht nur dieser pädagogische Ansatz, der Vernau beunruhigt. Ein Mädchen aus jenem Elite-Kurs hat sich vor einem Jahr unter mysteriösen Umständen das Leben genommen. Die Mitschüler wissen mehr, haben womöglich auch etwas mit der Sache zu tun, doch sie schweigen. Es sieht fast so aus, als wolle sich zum Jahrestag des schrecklichen Ereignisses jemand an den Schülern, die sich „schuldig“ gemacht haben, rächen. Doch Vernaus Befürchtung wird von der Schulleitung nicht ernst genommen. Der Ruf der Schule könne in Mitleidenschaft gezogen werden. Und dann gibt es das erste Opfer.
Glaubt man dem ZDF-Pressetext, dann schneidet der Fernsehfilm „Die 7. Klasse“, der vierte Film um den Berliner Anwalt, dem Jan Josef Liefers sein prominentes Gesicht verleiht, interessante Themen an: der Rückzug der Eliten aus der Solidargemeinschaft, die materielle und geistig-moralische Abschottung der „Oberen Zehntausend“, Schulen auf dem Weg zur Aktiengesellschaft. „Bildung wird zur Rendite, Schüler im schlimmsten Fall zu Risikokapital“, bringt die Roman- und Drehbuchautorin Elisabeth Herrmann den Trend auf den Punkt. Hinzu kommt das Thema „Live Action Role Playing“, ein gruppendynamisches Rollenspiel, eine Art Improvisationstheater. Die zur Selbstüberschätzung neigenden Schüler im Film spielen alte Krankenakten nach. „Die 7. Klasse“ beginnt mit einer Traumsequenz, die einen Fall aus dem Jahre 1907 darstellt: eine psychisch kranke Kindsmörderin – Diagnose: „fortschreitende paranoide Demenz“ – wird von einem Professor im Hörsaal vorgeführt, wofür er mit dem Tod bezahlen muss. Im Gebäude der heutigen Schule war vor 100 Jahren eine Nervenheil-Anstalt untergebracht; auf dem Dachboden lagern noch Akten aus jener Zeit. Offenbar benutzten die Schüler die Fälle als Vorlagen für ihre nicht ganz jugendfreien „Performances“.
Foto: ZDF / Conny Klein
Was „inhaltlich“ als Ausgangspunkt für einen Fernsehfilm faszinierend klingt, erweist sich einmal mehr – wenn Kollegen oder Elisabeth Herrmann selbst ihre Romane zu Drehbüchern verarbeitet – als ungelenke, ziemlich unausgegorene Genre- und Tonlagen-Mixtur. Der Film beginnt nach dem Mystery-Intro mit Teenager-Lehrer-Klischees und ikonografischen Schlüpfrigkeiten, bevor das Geheimnisvolle weiter Raum greift, das Schuld-Motiv verrätselt angedeutet wird und sich die „Ermittler“-Perspektive des Juristen mehr und mehr herausschält. Die Geschichte bleibt zwar vordergründig einigermaßen spannend, aber dramaturgisch ist dieser Film kein Ruhmesblatt: Die Jugendlichen bleiben – bis auf die hübschen und markanten Gesichter von Isolda Dychauk und Muriel Wimmer, deren Maxi nur eine Mini-Rolle hat – eine in jeder Hinsicht ziemlich kopf- und konturlose Gruppe. Das Schlimmste aber ist die Sprache dieser Teenies aus besserem Hause: „Wenn einer aussteigt, sind wir am Arsch.“ / „Wenn der Film im Internet ist, sind wir geliefert“ / „Man wird sind doch alle am Arsch“ / „Ich halte das nicht mehr aus.“ Will uns Herrmann mit diesem restringierten Code der Jugendlichen etwas sagen über die Eliten von morgen? Wenn ja, ist das wenig subtil. Wenn nein, dann sind das (nicht nur für junge Zuschauer) peinliche Dialoge.
Martin Brambach ist für jeden Film eine Bereicherung; sein stellvertretender Direktor ist allerdings eine ziemlich unglückliche Rolle: Hat dieser anfangs noch eine Funktion im Film, steht er später nur noch ab und an in der Gegend herum und ward bald nimmer gesehen. Seine Rolle hätte dramaturgisch wohl auch Sophie von Kessels Schulleiterin mit übernehmen können; vielleicht wäre diese dann etwas weniger eindimensional ausgefallen. Mit Verdichtung aber hat es ja dieses Drehbuch insgesamt nicht. Allenfalls das Finale, eine Art Jüngstes Gericht als Rache-Showdown (bei dem der Täter quasi wie Kai aus der Kiste springt), besitzt einen gewissen Reiz. Sein Publikum wird „Die 7. Stunde“ dennoch wieder bekommen: Denn sechs bis sieben Millionen Zuschauer mögen es offenbar, wenn viele Motive (erzähl)stillos angehäuft werden und die filmischen Tonlagen ohne erkennbares System wechseln, was für Buch und Carlo Rolas Regie gleichermaßen gilt. Und sie können bei dieser Krimi-Juristen-Mystery-Mär das Gefühl haben, „irgendwie“ am Zeitgeist (Live Action Role Playing, Smartphone-Präsenz), an gesellschaftlichen Entwicklungen (Schule, Marktorientierung, Moral etc.) teilzuhaben und sie können sich sogar noch ihre Vorurteile vom Film bestätigen lassen. Oder ist es nur Jan Josef Liefers (und vielleicht noch Stefanie Stappenbecks erfrischender, plottechnisch aber auch ziemlich überflüssiger Sidekick), der die Zuschauer für sich einnimmt und deshalb jedes Jahr ein Mal als Joachim Vernau mitnehmen darf. Er macht seine Sache so, wie er sie immer macht. Ein bisschen guter Mensch, ein bisschen Augenzwinkern, nett, sympathisch – und dieses Mal mehr als sonst mit einem sozialem Gewissen ausgestattet; Vernau kommt aus kleinen Verhältnissen. Seine Figur hält das Ganze narrativ zusammen und sie ist gleichsam typisch für diesen Film, einen Film, der in jeder Hinsicht nichts wagt.