Der Überfall

Ishema, Zimmler, Riemann, Basman, Kolditz/Wenzel, Lacant. Wahrheit oder Pflicht

Foto: ZDF / Hardy Brackmann
Foto Martina Kalweit

Ein gescheiterter Raubüberfall mit Todesfolge. Fragliche Zeugenaussagen, ein vermisstes Kind und zwei sich widersprechende Fahndungsansätze. Über den Zeitraum von sechs Tagen erzählt „Der Überfall“ (ZDF / UFA Fiction) von den Folgen einer Tat, die das Leben aller verändert, die darin involviert sind. Die Thriller-Serie von Stephan Lacant nach dem Drehbuch von Stefan Kolditz und Katja Wenzel hantiert mit wenig Zeit und viel Personal, bleibt lang ein unfertiges Puzzle und hält damit die Spannung hoch. In Milieuzeichnung und Bildgestaltung gelungen, ist nicht jeder Wendepunkt ein Treffer, das Tempo aber stimmt. Gelungene Krimi-Unterhaltung trifft die Lebenswelt derer, durch deren Leben ein Riss geht. Und in jeder Spiegelscherbe ein anderes Bild. Eine zeitgemäße ZDF-Freitagskrimiserie!

Montagmorgen ist die Kasse leer. Wer Montagmorgen einen kleinen Laden in Berlin überfällt, der muss sehr verzweifelt sein. „Der Überfall“ malt menschliche Verzweiflung in allen erdenklichen Farben. Explizit zu Anfang und Ende jeder Episode. Chromatische Neon-Töne tauchen die Einstellungen dann in ein künstlich-überblendetes Farb-Bad. Lila leuchtet der Himmel über Berlin, wie durch grelles Orange entzündet blicken die Protagonisten uns an. Die aus dem Handlungsverlauf herausstechenden Einstellungen sind visuelle Entsprechung einer Abstraktion, zu der hier keiner mehr fähig ist. Wer die Wahrheit sucht, braucht Abstand. Hier aber sieht keiner mehr den Himmel. Jeder kämpft nur für seine Wahrheit. Das Gros der fünfeinhalb Stunden Sendezeit geht für diese Kämpfe drauf. Für Verzweifelte, deren Blicke am Boden haften, die unter der Last ihrer Schuld zusammenbrechen, die auf das Lenkrad ihres Wagens eindreschen, die nicht weiterwissen. Lange bleibt die Thriller-Serie, die die Motive und Folgen dieses Überfalls über sechs Tage hin auffächert, ein unfertiges Puzzle. Fehlende Teile bleiben unter Verschluss. Nach den ersten 55 Minuten ist keiner klüger als zuvor.

Der ÜberfallFoto: ZDF / Hardy Brackmann
Unter Strom: Paula Schönberg (Katja Riemann) ist Personalchefin in einer großen Firma, aber ihre Arbeit ist nicht gut genug bezahlt, um ihre Spielsucht auszugleichen.

In der Auftaktfolge („Der Schuss“) wird der Zuschauer Zeuge eines ebenso zufälligen wie chaotischen Überfalls. Kein Zufall dagegen: An diesem Montag will Ladenbesitzer Hassan (Hadi Khanjanpour) eine Schuld begleichen. Sein Bruder Damon (Yasin Boynuince) hat Mist gebaut. Deshalb liegt neben der leeren Kasse eine Papiertüte mit 30.000 Euro auf dem Tresen. Beim Gerangel um das Geld fallen Schüsse. Polizistin Antonia „Toni“ Gebert (Lorna Ishema) ist als erste vor Ort. Ihre morgendliche Joggingrunde führte sie an dem Eckladen vorbei. Jetzt sondiert sie den Tatort: Der erschossene Hassan, ein schwerverletzter Kunde, zwei Zeugen. Hassans achtjähriger Sohn Arian (Elias Danesh Hartmann) ist verschwunden, dafür taucht der verantwortliche Ermittler von der Kripo auf. Frank Worms (Sebastian Zimmler) ist kalt wie ein Fisch. Toni nimmt er sofort mit ins Team. Sympathische Geste. Nicht so sympathisch: Worms spielt falsch. Am Tatort lässt er zwei Projektile verschwinden.

Über Folge zwei und drei erfährt der Zuschauer genauer, wer hier welche Schulden zu begleichen hat, wer von wem abhängig ist, wer wen erpresst oder belügt. Unterteilt man die Beteiligten in Soll und Haben bleibt die Haben-Seite ziemlich leer. Ganz oben auf der Soll-Seite stehen Katja Riemann und Joel Basman als zwei ungleiche Betrüger, die durch den gescheiterten Überfall noch tiefer in den Abgrund stürzen. Riemann agiert als spielsüchtige Personalerin Paula Schönberg mit maskenhafter Kälte. Das ist der Figur angemessen, lässt ihrem Spiel aber wenig Raum. Basman verleiht dem Ex-Häftling Daniel Kowalski eine ordentliche Portion Tragik und menschliche Wärme. Selbst Kowalskis Tochter (Lara Krymalowski) weiß: Papa ist chancenlos. Ein Verlierer. Gelungen in der Milieuzeichnung stellt „Der Überfall“ die Lebenswelten der (noch) beruflich gesettelten Schönberg und des mittellosen Kowalski, der in Schönbergs Firma als Putzhilfe schrubbt, gegenüber.

Der ÜberfallFoto: ZDF / Hardy Brackmann
Niemand sonst aus der Familie darf es wissen: Damon (Yasin Boynuince) steckt in Schwierigkeiten und nur sein Bruder Hassan (Hadi Khanjanpour) kann jetzt helfen – mit einer Papiertüte voller Geld; doch die ist bald futsch und einer der beiden tot.

Auch das restliche Personal lässt sich leicht auf kalt und warm verteilen. Kalt: Der Ermittler Frank Worms, der mehr zu verbergen als aufzuklären hat, und der Drogendealer Chris. Mit eindringlichen Blicken aus Augen, die scheinbar keinen Lidschlag brauchen, und der Angewohnheit seinem Gegenüber immer sofort viel zu nah zu kommen, stattet Maximilian Brauer diesen Chris mit psychopathischen Zügen aus, ohne ihn gleich zum Monster zu machen. Warm: Damon, dessen Freundin Samira (Amina Merai) und deren Bruder Jacub (Mo Issa). Durch eine leichtsinnige Aktion hat das Trio Damons älteren Bruder Hassan, vielleicht auch bald dessen Sohn Arian auf dem Gewissen. „Der Überfall“ könnte ab der zweiten Episode auch „Die Entführung“ heißen, denn Hassans Sohn bleibt verschwunden. Mit diesem Erzählstrang wird es jetzt noch wärmer. Arians Mutter Miriam – ahnungslos, aber nicht dumm – ist der Anker in all der dramatischen See. Karolina Lodyga („4 Blocks“) spielt eine Frau, die als einzig Unschuldige in ein Desaster gerät, ihren Mann verliert und um das Leben ihres Sohnes fürchten muss. Das meistert sie mit Bravour.

Bis zum Cliffhanger von Episode drei setzt die Dramaturgie fast schon etwas eintönig auf die sich beschleunigende Spirale, in der alle in immer größere Not geraten. Der zweite Rückblick auf den Überfall bringt in Episode vier („Der Plan“) dann die Wende. Wir werden Zeuge des eigentlichen Tathergangs. Das heißt: Zurück auf Los. Regisseur Stephan Lacant nimmt Tempo raus. Während er Sequenzen und verschiedene Schauplätze bisher in schnellen Wechseln verschränkte, kehrt nun etwas Ruhe ein. Die Wende kommt gerade rechtzeitig, bevor das immergleiche Muster von noch mehr Druck und noch größerer Verzweiflung den Zuschauer ermüdet. Das gängige Rezept „Kill your Darlings“ erschöpft sich schnell, wenn auf alles und jeden angewandt. Der ruhigere Rhythmus schadet da weder Geschichte noch Spannung. Im Gegenteil: Zum Finale wartet „Der Überfall“ auch mal mit einem Stillleben auf, friert Bewegungen fast ein, inszeniert in aller Ruhe letzte Begegnungen, konzentriert sich auf Blicke. Der Zuschauer weiß jetzt genug, um darin lesen zu können. Regisseur Stephan Lacant („Toter Winkel“ / „Zielfahnder – Blutiger Tango“) beweist stets gutes Timing.

Der ÜberfallFoto: ZDF / Hardy Brackmann
Seit „KDD – Kriminaldauerdienst“ (2007-10) gab es keine so ungewöhnliche ZDF-Freitagsserie mehr wie „Der Überfall“, der in sechs Folgen eine durchgängige Story erzählt. Und auch eine Kriminaler-Figur wie Frank Worms (Sebastian Zimmler) ist eine Rarität. Der lässt gleich zu Beginn am Tatort zwei Projektile verschwinden.

Aber nicht jede Wende, die zuvor noch genommen wird, ist so gelungen wie der zweite Rückblick auf den Überfall. Wie so oft stürzt auch mal jemand einfach unglücklich auf den Glastisch. Und nicht jede Figur überzeugt in ihren Motiven. An erster Stelle hätte die Tochter der alleinerziehenden Ermittlerin Toni mehr Kontur verdient. Die Tat, durch die Tonis Tochter Charlie (Marie Rosie Merz) in das dramatische Geschehen verstrickt, bleibt unklar. Das Scheitern ihrer Wiedergutmachung verstolpert in behaupteten Missverständnissen, und der Erzählstrang um ihren neuen Vertrauten (Michael Hanemann als alter Nachbar) erscheint nicht zwingend. Von dem Eindruck, nur im Drehbuch zu stehen, um das Leben ihrer Mutter komplizierter zu machen, kann sich die Figur durch all das nicht befreien. Einen solideren Stand haben Ricarda Seifried als Assistentin und Mitwisserin der Gelder veruntreuenden Paula Schönberg und Katharina Abelt als Zeugin des Überfalls. Beiden bietet das Script von Stefan Kolditz („Unsere Mütter, unsere Väter“, „Das Geheimnis des Totenwaldes) und Katja Wenzel die Möglichkeit zur facettenreichen Ausgestaltung. Schön, dass den Autoren bei aller Not ihrer verzweifelten Hauptpersonen nicht der Blick für die Eigenheiten vieler Nebenfiguren verloren ging. Ebenso wie der für manch einen Dreh ins Absurde.

Sehenswert macht die Miniserie auch die Kameraarbeit von Michael Kotschi („Tatort – Wer bin ich?“). Für das Headhunter-Drama „Houston“ (2012) war Kotschi für den Deutschen Kamerapreis nominiert, für „Fremde Tochter“ (2016, Regie Stephan Lacant) bekam er ihn. „Der Überfall“ ist Kotschis fünfte Zusammenarbeit mit Regisseur Stephan Lacant. Neben der auffälligen Farbdramaturgie, die die Szenen jeder Episode einrahmen und Zwischenbilder zum Durchatmen liefern, nutzen die beiden schräge Bildachsen, kehren je nach Perspektive oben mal nach unten, versetzen den Zuschauer in die Perspektive ihrer Protagonisten, führen ihn so nah heran, irritieren aber auch, indem sie Sehgewohnheiten brechen. All diese Mittel setzen sie sparsam ein. Auch die akustische Dramatisierung fällt eher zurückhaltend aus. Bei drohender Gefahr unterstützt ein Pochen den höherschlagenden Puls, immer wieder setzt ein dunkel schleifender Sirenenton ein. Am Ende aber ist es still, Noch einmal fällt ein Schuss. Dann ist Ruhe. Nur die Frage nach der Wahrheit steht noch im Raum. (Text-Stand: 12.2.2022)

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ZDF

Mit Lorna Ishema, Sebastian Zimmler, Katja Riemann, Joel Basman, Yasin Boynuince, Karolina Lodyga, Maximilian Brauer, Anna Grisebach, Hadi Khanjanpour, Michael Hanemann, Ricarda Seyfried

Kamera: Michael Kotschi

Szenenbild: Stefan Schönberg

Kostümbild: Wiebke Kratz

Schnitt: Dirk Grau

Musik: René Dohmen, Joachim Dürbeck, Ege Ateslioglu

Redaktion: Caroline von Senden (ZDF), Alexandra Staib (ZDF)

Produktionsfirma: UFA Fiction

Produktion: Benjamin Benedict

Drehbuch: Stefan Kolditz, Katja Wenzel

Regie: Stephan Lacant

Quote: Quote: (1): 4,50 Mio. Tuschauer (16,2% MA); (2): 2,63 Mio. (10,1% MA); (3): 2,73 (9,9% MA); (4): 1,80 Mio. (7,5% MA); (5): 2,08 Mio. (7,5% MA); (6): 2,01 Mio. ((,8% MA)

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