Andy Colussi (Bernhard Schir) hat alle Gefängnisschleusen passiert. Vor ihm schiebt sich das große Eingangstor zur Seite. Nato-Draht über Beton, davor die Schnellstraße, die Berge in der Ferne, kaum Himmel. Den zeigt erst die nächste Einstellung. Mit dem eingeblendeten Filmtitel schwenkt die Kamera aus dem Blau nach unten. Die Schrift verschwindet hinterm Gebirge – ein gelungener Verfremdungseffekt, der das Bild als Kulisse entlarvt. Der Schwenk landet auf der Brenner-Autobahn und fährt mit einem Geldtransporter in die Vergangenheit. In zwei Minuten machen Eva Testor (Drehbuch, Kamera) und Regisseurin Mirjam Unger („Vorstadtweiber“, „Tage, die es nicht gab“) klar, was Sache ist. Wir sind nicht am Wilden Kaiser. Der Bergdoktor operiert hier nicht und an keinem Balkon blühen überdüngte Geranien. Kräftige Farben gehören allein den Akteuren. Rot für die Kommissarin, blau für den Vize, gelb für die aufstrebende Fachkraft im Büro.
Foto: ZDF / Heinz Laab
Lisa Kuen (Patricia Aulitzky) und ihr Kollege Alex (Dominik Raneburger) haben gute Gründe, um den haftentlassenen Colussi als Täter in ihrem aktuellen Fall zu verdächtigen. Das Mordopfer war Mitwisser bei einem Geldtransport-Überfall, der vor sieben Jahren geschah. Einer der Fahrer starb damals durch eine Kugel von Colussis seitdem verschwundener Komplizin. Patricia Aulitzky alias Lisa Kuen ermittelt wie eine Maschine. An ihrer Seite – eher hinter ihr her – sorgt Dominik Raneburger für Leichtigkeit, ein wenig Komik und berechtigtes Staunen über seine Kollegin. Während sie mit Pulsmesser und Rucksack durch die Welt geht, kommt er mit lederner Aktentasche zum Tatort. Als „normaler Typ“ ist er der Anker. Ergänzt wird das Ermittlungs-Personal durch Harald Windisch („Im Netz der Camorra“) und Antonia Moretti. Ihn umweht ein Verdacht, sie ist zu apart in Szene gesetzt, um andere Facetten zeigen zu können. Das macht aber nichts. Auch eine unnötige Sex-Szene, die wohl die Robustheit der verlässlich unterkühlt agierenden Kommissarin unterstreichen soll, ist schnell vergessen.
Auf der Haben-Seite versammelt „Der Tote in der Schlucht“ dafür Figuren, die ein Geheimnis umgibt. Überraschende Wendungen traut man der Reihe (Episode 3 ist abgedreht) auf jeden Fall zu. Garantiert ist mit Drehbuch und Kamera in Personalunion der gebürtigen Tirolerin Eva Testor ein „anderer“ Blick auf ikonische Schauplätze der Tiroler Alpenregion. Diesmal sind das die Bergiselschanze vor Innsbruck oder die Tiroler Vieh-Versteigerungshalle, in der die Crew während einer tatsächlich stattfindenden Versteigerung drehte. Fiktion mischt sich mit Dokumentarischem, der touristische Blick bleibt außen vor. Statt Tradition zu feiern, inszeniert „Der Tote in der Schlucht“ das Schützenvereinshaus als Zeitkapsel einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft und Berghöfe als Relikt einer vom Aussterben bedrohten Bauernschaft.
Foto: ZDF / Heinz Laab
Unterstützt wird das Gefühl der Los- oder Auflösung alter Sicherheiten und Gebräuche durch die Filmmusik. Wie zuvor haben Patrick Pulsinger und Teresa Rotschopf einen elektronischen Sound komponiert, der mit Alpenklängen rein gar nichts am Hut hat. Gleichzeitig sind die Klänge so dezent eingesetzt, dass der Sound nie wie ein Fremdkörper über den Bildern schwebt. Fein nuanciert gelingt auf der Tonspur eine Gratwanderung zwischen Dialogen im Dialekt und modernen akustischen Akzenten. Ein Alpenkrimi im Hier und Jetzt.