30 Jahre nach einer brutalen Vergewaltigung eines neunjährigen Mädchens kann der Täter, der unauffällige Familienvater Piet Martens (Bruno Cathomas), dank neuester DNA-Techniken doch noch überführt werden. Bruno van Leeuwen (Peter Haber) war schon damals der leitende Ermittler und er hat sich offenbar auch ein Stück weit daran die Schuld gegeben, dass der Fall unaufgeklärt zu den Akten gelegt werden musste. Das Opfer, Vicky Jacobs (Katharina Lorenz), nimmt die Nachricht gefasst entgegen, doch wenig später brechen die alten Wunden bei ihr wieder auf. Ihre Mutter (Barbara Auer) will es nicht glauben, sie kennt den Täter, er war und ist ein Nachbar und mit seiner Frau (Susanne Wuest) ist sie gut bekannt. Dann die Hiobsbotschaft: Martens kann nicht vor Gericht gestellt werden, die Tat fällt noch unter die alte Gesetzgebung und ist verjährt. Der Vergewaltiger ist ein freier Mann. Vicky, geschockt, schlägt Martens beim Verlassen des Polizeipräsidiums mit einer Flasche nieder. Jetzt sitzt sie auf der Anklagebank – und wird verurteilt, obwohl sich van Leeuwen sehr für die Frau engagiert. Verkehrte Welt: Die Jacobs und die Polizei sind fassungslos.
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„Der Tod und das Mädchen“ ist nach „Eine Frau verschwindet“ (2012) und „Totenengel“ (2013) – wie der Untertitel verrät – der dritte Krimi um den Amsterdamer Kommissar Bruno van Leeuwen. Peter Haber verkörpert den vom Schicksal gezeichneten Mann als Seelen-Ermittler, der über ein verträgliches Maß hinaus an den Fällen und den Schicksalen der Opfer teilhat. Und so ist auch der Fall der kleinen Vicky, aus der eine 39-jährige Frau geworden ist, die ihren Körper stählt, damit ihr niemand mehr so etwas antun kann, weniger zu einem herkömmlichen TV-Krimi geworden als vielmehr zu einem Drama um Schuld und Erlösung, um Trauer und Schmerz. Auffallend sind die christlichen Motive (Maria, die Kommunion, der Stall), die sich durch den Film ziehen. In einer finalen Bildphantasie kommt sogar eine Ahnung von möglicher Vergebung ins Spiel. Ob Kinderschänder oder Opfer, ob van Leeuwen, die Eltern des Vergewaltigungsopfers, ja selbst die Frau des „Monsters“ – am Ende haben sich alle schuldig gemacht. Das dichte, assoziationsreiche Drehbuch schrieb Nicole Armbruster („Freistatt“). Die außergewöhnliche ikonografische Zurichtung verlieh dem Stoff der Fernseh- und Kino-Regisseur Hans Steinbichler („Hierankl“), Freund philosophisch schwermütiger Film-Andachten, in denen immer wieder dysfunktionale Familien in den Blickpunkt rücken.
Die Vergewaltigung des Kindes grenzt ans Barbarische. „Das Mädchen hat nur knapp überlebt“, heißt es bereits zu Beginn des Films. Einzelheiten führt der Kommissar ansatzweise während der Verhandlung gegen das Opfer aus, das zum Täter geworden ist. Steinbichler pegelt in dieser Szene dann aber den Ton zurück: So genau muss es der Zuschauer dann doch wieder nicht hören, auch explizite Bilder der Tat gibt es nicht im Film. Mit Abbild- und Betroffenheitsrealismus will der Regisseur den Zuschauer nicht überrumpeln. Ein Film über eine solche Tat sollte unter die Haut gehen, sollte verstören, sollte schmerzen, sonst muss sich ein Filmemacher vorhalten lassen, sich selbst ein Stück weit des Missbrauchs – an diesem Stoff aus der Realität – schuldig zu machen. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Kindermord mit Mainstream-Mitteln als spannende Unterhaltung zu präsentieren, ist ein grenzwertiges Unterfangen. Auf solche verlogenen Krimi-Spielchen lässt sich Steinbichler aber nicht ein. Er zeigt vielmehr den Kokon, in den die Charaktere verhängnisvoll eingesponnen sind. Durch diese schicksalhafte Interdependenz wird aus dem Krimi-Drama eine Tragödie, in der die Menschen – selbst van Leeuwen – oft in Tränen ausbrechen und in Schockstarre verfallen. Und die Schwere der Tat und die als staatliches Versagen empfundene Rechtssprechung rückt selbstredend die Möglichkeit ins Zentrum, dass hier einer die Beherrschung verlieren, die Grenzen der Zivilisation verlässt und barbarisch handeln könnte.
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Was die unbegreifliche Tat im Laufe der Zeit mit den Menschen macht, die mit ihr unmittelbar zu tun bekommen, vermittelt Steinbichler dem Zuschauer auch und vor allem mit seiner fürs Fernsehen unkonventionellen Erzählweise. „Van Leuuwens dritter Fall“ ist ein (Krimi-)Drama mit Arthaus-Mitteln. Der Film verzichtet weitgehend auf konventionelles raumzeitliches Erzählen. Szenen werden häufig mit Großaufnahmen eröffnet, manchmal sehen wir nur ein riesengroßes Augenpaar, einen Mund, einen Hinterkopf, der sich durch die Landschaft bewegt. Es gibt kaum eine Szene, die nicht von anderen Situationen oder Bildern unterbrochen wird. Häufig spiegelt die Filmsprache die Wahrnehmung der Protagonistin; diese ist häufig gestört. Dann sieht man diese von Katharina Lorenz physisch phänomenal verkörperte Frau, die sich mit der Abrichtung ihres Körpers kampfbereit gegen den Feind von außen stemmt. Diese Figur, die den inneren Film ihrer Vergewaltigung immer und immer wieder abspult, hat auch schwache Momente, dann versagen ihr die Sinne, sie, die manische Läuferin, verliert dann den Boden unter den Füßen. In solchen Momenten zaubern die Gewerke audiovisuelle Äquivalente für diesen Taumel: Ihr Gesicht groß, verzerrt, gedoppelt, Tinitus-artige Geräusche, und die Kamera wankt & wackelt. Lorenz spielt hier keine bloß traumatisierte Frau, die mit Panikattacken kämpft, diese Vicky steht tagtäglich vor der Wahl: Leben oder Tod? Entsprechend schizophren wirkt sie. Diese Kampfmaschine hat ihr Ego verloren.
Mit dieser Ich-Spaltung und der Zersplitterung der gewohnten Krimi-Narration lösen sich auch lieb gewonnene Gewissheiten und Gewohnheiten für den Zuschauer auf. Selbst der Kommissar taugt nicht zum Moderator. Im Gegenteil. Der kann sich (und seine Rolle als Polizist) schon mal vergessen. Peter Haber sucht, wenn van Leeuwen nicht gerade spricht oder wütend ist, gnadenlos nach diesem einen Ausdruck. Hat er ihn gefunden, lässt er seinen Blick starr solange stehen, bis auch der Letzte der geneigten Zuschauer spürt, welche Abgründe sich in dieser Figur auftun. Das ist schwer, für manch einen Zuschauer sicher auch schwer auszuhalten, aber es hat nichts von dem Bedeutungsschwangeren, wie es vor allem deutsche TV-Dramen früher vor sich hertrugen. Auch Bruno Cathomas ist ein Großer. Nach der Überführung sagt sein „Kinderficker“ kaum noch einen Satz. Seine Figur wird keiner Analyse unterzogen. Der Schweizer spielt ihn als Monster von der traurigen Gestalt (und die Kamera von Bella Halben fängt ihn entsprechend ein). „Der Tod und das Mädchen“ besitzt Irritierendes und Verstörendes auch noch über die vordergründige Handlung und die Filmsprache hinaus. Armbruster und Steinbichler geben der Geschichte eine Meta-Ebene mit, die der Zuschauer selbst deuten muss. Bis zum Ende des Films bleibt die Frage offen, weshalb das Mädchen den Täter damals nicht verraten hat und stattdessen lieber die Tortur auf sich nahm, ihren Peiniger von nebenan tagtäglich zu sehen. War es nur die Angst, wie der Kommissar annimmt? Oder spielt vielmehr Steinbichlers hassgeliebter Katholizismus hier eine verhängnisvolle Rolle? Immer wieder betet die Heldin das Vaterunser herunter, immer wieder die Vergebungszeilen. Hat sie diese Verse zu wörtlich genommen? Und weshalb wagen Opfer und Täter im Abspann einen erotischen Tanz miteinander? (Text-Stand: 27.10.2017)