Die Familie weiß von nichts. Haifa Abdallah (Inaam Al Battat) und Malaika (Sabrina Amali) gucken sparsam aus der Wäsche, als sie erfahren, dass ihr Sohn/Ehemann Omar (Karim Ben Mansur), Fahrer von Beruf, seinen eigenen Geldtransporter überfallen hat, seinen besten Kumpel Zlatko (Slavko Popadic) verraten haben soll und sich auf der Flucht befindet – mit acht Millionen Euro. Zlatkos Mutter Dunja (Anica Dobra), die seit zwanzig Jahren mit Haifa in einer Wäscherei arbeitet, kündigt daraufhin den Abdallahs die Freundschaft. Dass in Wahrheit der kokainabhängige Serbe, der vorübergehend in U-Haft sitzt, Omar linken wollte, können die Frauen nicht wissen. Von Omars Untreue allerdings hätten sie schon etwas mitbekommen können: Davon erfahren sie erst, als seine Zweitfrau Chantal (Sina Tkotsch) in der Wäscherei auftaucht, um den Damen mitzuteilen, dass Omar in Rio festgenommen wurde und sie von ihm ein Kind erwarte. Nach der Auslieferung nach Deutschland bekommt der Millionär im Knast viel Besuch. Alle verfolgen ihre eigenen Interessen. Die Ehefrau pfeift auf das Geld, die schwangere Geliebte rechnet die acht Jahre Haft mit den acht Millionen Euro hoch und kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Aber auch die reiferen Damen schieben zunehmend ihre moralischen Bedenken beiseite. Denn da ist ja noch Artur Gorki (Raymond Tarabay), ein skrupelloser „Freund“ der Familie, der den Räubern die Logistik finanziert hat, und keine acht Jahre auf sein Geld warten möchte.
Vier statt acht Jahre Knast, so das Angebot der Staatsanwaltschaft, dafür aber kein Geld und den Kredithai im Nacken. Oder: acht Jahre Knast, reich und ständig auf der Flucht. Beides sind keine schönen Aussichten. Ob allerdings die Alternative, die Befreiung des Millionenräubers, glücklicher macht? Lars Becker kommt in „Der Millionen Raub“ zu einer augenzwinkernden Lösung. Sein Film ist zwar Krimi, Thriller, Gangsterfilm und Drama, besitzt allerdings reichlich komödiantische Zwischentöne. Und Familie ist alles, wie die Eingangsszene höchst amüsant vermittelt, in der Großmutter, Sohn, Ehefrau und Enkelkind frühmorgens aufgeregt durch die Wohnung hasten. Aber auch die weibliche Komplizenschaft oder die Dramaturgie der Knast-Besuche, bei dem alle dem Inhaftierten „gute“ Ratschläge geben, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Genre-Ironie schützt allerdings vor Blutvergießen nicht. Das haben die Coen-Brüder und Tarantino im Kino vorgemacht. In Beckers Fernsehfilm wird jedoch eine feine Balance zwischen Nähe (Drama-Gefühl) und Distanz (Genre-Coolness) gehalten. Die tragischen Momente werden ernst genommen, drücken aber nicht zu sehr auf die leichte Grundstimmung des Films. Auch wenn die Situationen oft etwas Absurdes besitzen, bleibt das Spiel ernst, lakonische Untertöne inklusive. Solche Tonlagen-Mixturen sind immer eine Gratwanderung. Ein Genrefilm darf alles, solange es stimmig wirkt. Bei diesem kurzweiligen Mix dürften selbst deutsche Zuschauer nicht mit dem Glaubwürdigkeits-Totschlagargument kommen.
Ausgangsidee war, so der Autor-Regisseur in den ZDF-Presseunterlagen, „ein Thriller-Drama zu erzählen, in dem nicht eine kriminelle Männergesellschaft im Clan- und Gangstermilieu im Mittelpunkt steht, sondern vier Frauen“. Polizeiarbeit wie im Krimi gibt es also nur am Rande: Zwei BKA-Beamte (Murathan Muslu, Lasse Myhr) dürfen den Damen in der Wäscherei unangenehme Nachrichten überbringen, zumeist erfolglose Verhöre führen und sich übel austricksen lassen. Was sich dagegen zwischen den vier Frauen abspielt, zu denen sich noch eine Anwältin (Anja Kling) gesellt, die dem schnöden Mammon schon mal ihr Rechtsempfinden opfert, ist sowohl der Motor als auch das Herz der Geschichte. Sind es anfangs noch die jungen Männer, die handeln, übernehmen bald die Frauen das Kommando, allen voran die Mütter: Sechzig Jahre Lebenserfahrung zahlt sich aus. Schön, dass der 70-jährige Lars Becker, dessen Filme immer noch eine große Frische ausstrahlen, auch vor der Kamera auf die Weisheit des Alters setzt, indem er in diesem Ensemblefilm Inaam Al Battat (61) als Haifa (stark, wie sie alle Tonlagen in ihrem doppelbödigen Spiel vereint) die Schlüsselrolle gibt, dicht gefolgt in Sachen Präsenz von Anica Dobra (60), die in den 1990er und 2000er Jahren ein Hauptrollen-Stammgast im deutschen Kino und Fernsehen war. Ein gutes Händchen beweisen Becker und seine Casterinnen Rebecca Gerling und Lina Behr aber auch bei der gesamten Besetzung, allen voran Karim Ben Mansur (29) als Omar, ein absoluter Schauspieler-Neuling, und Sabrina Amali (32), der nach fünf Becker-Filmen und der ARD-Serie „Die Notärztin“ ein Karrieresprung bevorstehen dürfte.
Die Männer sind abwesend, oder sie tun das Falsche. Sie richten die Waffen aufeinander, schrecken vor Mord und Verrat nicht zurück. Die Frauen in Lars Beckers Film verhalten sich anders: solidarischer. Sogar die beiden Rivalinnen im Kampf um den einsitzenden Millionenräuber finden zueinander. Die schwangere Geliebte wird von den Abdallahs quasi adoptiert. Baby ist Baby, und eine Familie kann nicht groß genug sein. Das Matriarchat hat in „Der Millionen Raub“ also die Hosen an. Und 2024 lässt sich die Geschichte noch deutlicher geschlechterpolitisch lesen. Männer führen sinnlose Kriege, Frauen bekommen Kinder und sind eher zu Kompromissen bereit. Der Griff zur Waffe ist allerdings kein männliches Privileg mehr, bleibt allerdings in weiblicher Hand ein Ausrutscher. Bis es dazu kommt, entstehen aus den jeweiligen Konstellationen, den wechselnden Koalitionen und schließlich aus Situationen, die gewaltig schieflaufen, immer wieder neue Plot-Wendungen. Die Richtung der Geschichte ist vorgegeben, ihr Ausgang aber völlig offen. (Text-Stand: 14.3.2024)